Als Heide einem Schulkameraden mit einem Stein den Kopf blutig schlug, war Mutter klar, dass sie Heide nicht mehr in den Griff bekommen konnte. Deshalb musste meine Schwester für einige Zeit in ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Ich vermisste sie nicht.
Wegen der beengten Wohnverhältnisse und den damit verbundenen Spannungen suchten meine Eltern dringend eine andere Wohnung, was in dieser Zeit der Wohnungs-Knappheit nicht einfach war. Also dauerte es noch eine lange Zeit. Dass meine geliebte Oma eine eigene Wohnung suchte, mir bald keine Stütze mehr sein würde, erklärte man mir nicht, so bemerkte ich es erst viel später.
Außer mit meinen Freunden spielte ich bei Schlechtwetter gerne zu Hause mit unseren Katzen, die bei uns dringend nötig waren, wegen der vielen Ratten in dieser Zeit. Wir hatten einen Kater und seine Mutter. Als das Muttertier einmal Junge warf, musste ich mit ansehen, dass mein neuer Vati die Katzenbabys tötete und in das Plumpsklo warf. Das erschütterte mich sehr und dadurch bekam meine Euphorie wegen des neuen Vaters einen ersten Knacks. Diese grausige Tat nahm dem positiven Verlauf unserer Vater-Tochter Beziehung etwas von seinem Glanz.
Aber mich tröstete meine besondere Liebe zu Kater Fritzchen, denn der ließ sich von mir sogar in meinen kleinen Puppenwagen packen und in der Wohnung spazieren fahren. Seine Mutter Lissy dagegen war keine Schmusekatze sondern die perfekte Ratten-Jägerin, sie hielt unser Haus samt Umgebung sauber. So war meine Trauer auch nur von kurzer Dauer, als Lissy eines Tages an einer vergifteten Ratte starb.
Kater Fritzchen hingegen vermisste ich schmerzhaft sehr lange Zeit, weil wir ihn wegen unseres Umzugs zurück lassen mussten. Denn in der neuen Wohnung waren Haustiere nicht erlaubt. Als ahne er dass wir uns nie wiedersehen werden miaute er kläglich als wir unsere Behausung mit den letzten Möbeln verließen. Es brach mir fast das kleine Herz zu sehen wie er am Zaun unseres Vorgartens entlang hinter uns herlief bis der Zaun seinen Weg beendete.
Auch dass meine Oma nun nicht mehr mit uns zusammen, sondern in einer anderen Gegend wohnte, machte mich anfangs sehr traurig. Dafür nahm ich als notwendiges Übel dass Heide wieder aus dem Heim nach Hause kam. Ich nahm es jedoch als nebensächlich hin, denn große geschwisterliche Zuneigung empfand ich für sie nicht.
Aber der Trennungsschmerz von der gewohnten Umgebung, meinen Freunden und meinem Kater legte sich bald in der Umgewöhnungs- Phase an die völlig neuen Verhältnisse.
Wir zogen in eine gepflegte Genossenschafts-Siedlung, in einem anderen Ortsteil. In dem weitläufigen reinen Wohn-Viertel, standen auf mehrere Straßen verteilt viele 4 und 6 Familienhäuser mit großen Wiesen und Gärten dazwischen, so dass es nicht nur viel Platz zum Spielen gab, die Mieter sogar selbst Obst und Gemüse anpflanzen konnten, was in dieser kargen Zeit eine große Hilfe war.
Wir bezogen eine 3 Zimmer-Erdgeschoß-Wohnung in einem 4 –Familienhaus. Eine 60 Quadratmeter-Wohnung, bestehend aus Wohnküche- Mädchenzimmer- Wohnzimmer mit Bettcouch für meine Eltern, sowie einer kleinen Diele und Bad. Nun hatten wir elektrisches Licht, fließendes Wasser und sogar ein Badezimmer mit kleiner Sitzbadewanne und Toilette mit Wasserspülung.
In dem großen Keller hatte jede Partei einen Abstellraum und es gab dort eine große Waschküche mit einem riesigen eingemauerten Kessel zum kochen der Weißwäsche und einem Holzbottich für die Buntwäsche und Spülvorgänge. Dort konnten wir 1x monatlich unsere Wäsche waschen und auf dem Speicher im Dachgeschoß zum Trocknen aufhängen, im Sommer sogar auf den Leinen auf der großen Wiese hinter dem Haus. Selbst für die Säuberungsarbeiten der Gemeinschaftsflächen, Treppenhaus, Speicher und Kellerflure gab es einen genauen Plan. Alles war praktisch und perfekt geregelt.
Nun wohnten wir auch in einem so schönen Steinhaus mit Garten wie meine Freundin Elke.
Wir waren in der besseren Welt angekommen.
Dass es auch in diesem schönen Haus Nachteile gab musste ich allerdings schnell feststellen. Ausgerechnet unsere Nachbarin auf der gleichen Etage entpuppte sich als Hausdrachen. Die kinderlose Frau mochte absolut keine Kinder, mich also auch nicht. Sie bestimmte rigoros das gesamte Geschehen im Haus, obwohl sie keine Hausmeister- Funktion hatte.
Aber weil sie das Wassergeld im Auftrag der Genossenschaft von den anderen Bewohnern des Hauses Nummer 7 kassierte bestand sie darauf, dass nur einmal wöchentlich gebadet werden durfte und dass zwei Personen das gleiche Wasser benutzen mussten. Sie begründete diese Einschränkung mit den hohen Kosten und der herrschenden Wasserknappheit. Weil wir in der alten Wohnung das Wasser von dem Bus-Depot mühsam per Eimer ins Haus hatten schleppen müssen, hatte ich nur selten gebadet, deshalb sah ich die Regelung nicht als unnormal an. Um der Bequemlichkeit willen, nun fließendes Wasser in der Wohnung zu haben, akzeptierten wir dass das Wasser bezahlt und eingeteilt werden musste. Also fügten sich auch meine Eltern widerspruchslos den strengen Vorschriften.
Was machte so eine Kleinigkeit schon? Auch ein Paradies konnte schließlich Macken haben.
Meine Anpassungsfähigkeit war entstanden.
Natürlich bedeutete der Umzug auch einen Schulwechsel für mich.
Der erste Stolperstein ergab sich in der neuen Schule weil meine Eltern einen anderen Familien-Namen führten. Sie hießen Theissen und ich Schütz. Dadurch bemerkte ich, dass mich das von den meisten Mitschülern unterschied. Weil Jeder gleich wusste, dass ich nur einen Stiefvater hatte hänselten die Anderen mich damit. Deshalb wollte ich auch gerne den Namen meines Stiefvaters annehmen, aber eine Namensänderung lehnten meine Eltern ohne Begründung ab.
Allerdings fand ich schnell heraus wie ich mich interessanter machen konnte. Ich prahlte damit dass mein richtiger Vater Franzose und ich Mütterlicherseits von adliger Abstammung sei. Den französischen Vater nahm man mir kommentarlos ab, aber an die adlige Ahnin glaubten manche Mitschüler nicht.
Die Zweifler schleppte ich mit zu meiner Oma, die ja nahe der Schule wohnte, bat sie um Bestätigung meiner Angaben. Obwohl es meine Oma amüsierte, bestätigte sie die Tatsache, dass ihre Großmutter eine Gräfin gewesen war. Oma war klug genug zu verschweigen dass die Gräfin verarmt ihr Leben hatte fristen müssen. Oma ahnte, dass besonders Kinder die Blaublütigen für reich hielten und glaubten dass sie in Burgen und Schlössern wohnten. Mir jedoch brachte Omas Unterstützung die Bewunderung meiner Kameradinnen ein und das war mir Erfolg genug.
Am Anfang des fünften Schuljahres in der neuen Klasse der Gemeinschaftsschule musste ich mich also erst einmal behaupten. Es gab ein paar männliche Klassenkameraden die glaubten mich mit schubsen und kneifen einschüchtern zu können. So hatte ich in den ersten Wochen in den Pausen keine Ruhe, weil ich nur damit beschäftigt war mich zur Wehr zu setzen. Als ich die ständigen Attacken leid war überlegte ich wie ich dem ein Ende machen könne.
Per Zufall ergab sich die Gelegenheit.
Durch einen Stoß von hinten rempelte ich Udo, den größten und kräftigsten Jungen, unabsichtlich vor der Tür unseres Klassenzimmers an. Bevor ich mich entschuldigen und den Irrtum aufklären konnte, schlug Udo nach mir und traf mich unglücklich im Brustbereich. Der stechende Schmerz an den gerade entstehenden kleinen Knospen war so fürchterlich, dass ich wie eine Furie auf den um zwei Köpfe größeren stabilen Knaben losging.
Ich trat, schlug, boxte, kratzte und biss ihn wie von Sinnen, bis er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf den Rücken fiel. Sofort warf ich mich auf ihn und attackierte ihn mit einer rasend schnellen Box- und Schlagserie, dass er nicht zur Gegenwehr kam.
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