Die beiden waren sicher im Alter meiner Schwester, also viel älter, 12, 13 oder sogar 14 und größer als ich, das verunsicherte mich noch mehr. Gerd entpuppte sich als ein hübscher hellblonder stämmiger Kerl mit strahlend blauen Augen, der seine Rosel direkt mit einem dicken schmatzenden Kuss begrüßte. Das erschreckte mich so sehr, dass ich vorsichtshalber einen Schritt zurückwich als Erich mir seine Hand entgegen streckte. Der schmale Junge war dunkelhaarig mit blassem farblosem, ungewaschen wirkendem Gesicht und undefinierbaren grau-grünen Augen. Er sah neben dem properen Strahlemann Gerd recht kränklich aus. War ich froh, dass er mich nur mit Handschlag statt Kuss begrüßen wollte und selbst diese Berührung mochte ich schon nicht. Wusste ich doch nicht was er mit seiner schmuddeligen Hand vorher angefasst hatte? Ich entschied im Stillen, dass ich keine weitere Annährung mehr zulassen würde, küssen schon mal gar nicht!
Kannte ich doch zärtliche Berührungen von zu Hause gar nicht, denn meine Mutter und meine Oma waren beide kühle Frauen, sogenannte Trümmerfrauen, die liebevolle Nähe nicht zuließen. Durch ihre schwere Accordarbeit, die oft bis in den späten Abend andauerte, sah ich meine Mutter selten und dann war sie immer müde und ablehnend.
Meine Oma war auch keine Schmuseoma, sondern eine stolze herrische Frau von aristokratischer Abstammung, die durch zwei geschiedene Ehen aus Enttäuschung zur rabiaten Männerfeindin geworden war. Durch ihre schlechten Erfahrungen hatte sie zur Frömmigkeit gefunden und war der Adventisten-Gemeinde beigetreten. Sonntags vormittags nahm sie mich mit zu der Sonntagsschule, womit sie mich ebenfalls Gottesfürchtig erziehen wollte.
Ich hörte lediglich gerne den Geschichten zu, die dort erzählt wurden, in der Gläubigkeit jedoch fand ich bei meiner ungläubigen Mutter kein Echo.
Beide Frauen hatten sich zu einer Zweckgemeinschaft zusammen geschlossen. Sie versorgten uns gut, aber sie erfüllten nur ihre Pflicht. Gefühle zeigten sie nicht. Weil sie Beide von den Männern betrogen oder im Stich gelassen wurden kannten sie Liebe nicht und konnten sie auch nicht geben. Das machte sich auch im Umgang mit uns Kindern bemerkbar. Deshalb war mir jegliche körperliche Wärme fremd.
Und das einzige männliche Wesen in unserem Haushalt war Kater Fritzchen, den ich schon wegen meiner Empfindlichkeit gegen Haare nicht liebkoste.
Nein, bei dem farblosen Erich würde ich sicher auch nicht stillhalten, denn ich hasste es bereits wenn irgendein Onkel oder Opa mir das Gesicht tätscheln oder übers Haar streicheln wollte. Bei solchen Annäherungen ging ich sofort auf Distanz und begegnete diesen Männern mit abweisendem Misstrauen. Bei dem kernigen Gerd allerdings hätte ich es mir vielleicht überlegt, würde er mir einen Kuss geben wollen. Der gefiel mir. Aber der gehörte meiner Freundin Rosel.
Hm, wie blöd, dachte ich. Aber wer konnte schon wissen wie es weiter ging?
Rosel wusste es, sie schlug vor spazieren zu gehen. Sie wollte in den nahen Wald. Ängstlich überlegte ich mir schon den Fluchtweg für den Fall dass ich weglaufen musste. Mein sonst sprichwörtlicher Mut ließ mich völlig im Stich. Allein die Vorstellung einem küssenden Erich hilflos im Wald ausgesetzt zu sein, schreckte mich. Ich war der Situation nicht gewachsen. Das war eine vollkommen andere Sache als einen Streit auszufechten.
Weil wir einige hundert Meter zu gehen hatten, demonstrierte ich meine Ablehnung schon einmal damit dass ich mit deutlichem Abstand von den Anderen auf der steil bergab führenden Straße vorlief, während Gerd und Rosel verliebt Hand in Hand gingen und Erich neben den Beiden hertrottete.
Trotz mehrfacher Aufforderung meiner Freundin doch näher zu kommen, vergrößerte ich den Abstand noch und begann kindlich zu hüpfen, wobei ich fröhlich lachte und trällerte. Nur an Rosels finsterer Miene konnte ich erkennen, dass sie mein Verhalten nicht in Ordnung fand, was mich aber wenig beeindruckte.
Was die beiden Jungs dachten, worüber sie sprachen, konnte ich nicht mitbekommen, dazu hatte ich mich zu weit entfernt. Lediglich als sie sich noch vor dem Waldrand zur Umkehr entschlossen, war mir klar dass ich Rosels Vorhaben vereitelt hatte. Mir war das nur recht.
Danach kündigte Rosel mir rigoros die Freundschaft. Weil ich ihr mit meinem kindischen Benehmen den Spaß verdorben hatte, sagte sie bevor sie mich mied. Der Verlust dieser Freundin war mir egal.
Mir jedoch brachte der Vorfall die Einsicht, dass ich bei aller Unerschrockenheit nicht zu jedem Abenteuer bereit war.
Dadurch hatte sich meine Eigenwilligkeit entwickelt.
Durch den erneuten Verlust einer Spielkameradin wurde ich mit einem noch undurchsichtigeren Erlebnis konfrontiert, für das ich erst Jahrzehnte später eine hässliche Erklärung fand.
Ich hatte viele Cousinen und Cousins mütterlicherseits, aber alle um einiges älter als ich. Deshalb war mir Tante Jules Nachkömmling Ingrid, 4 Jahre jünger als ich, am liebsten. Ingrid war gerade in das Alter gekommen, dass sie sich zur Spielgefährtin eignete, so dass ich fast täglich in den 24ziger stieg und hin fuhr. Natürlich weiterhin als respektierte Schwarzfahrerin.
Gleich neben Tante Jules Wohnhaus hatte sie einen Kaninchenstall und davor gab es eine kleine Wiese. Dort züchtete meine Tante 8 Karnickel, um so den Braten für Weihnachten oder andere wichtige Feste zu mästen.
Auf der gegenüber liegenden Straßenseite lebte die Familie Brecher mit ihren vier Kindern. Die 9 jährige Karla kam oft zu uns rüber wenn ich mit meiner Cousine Ingrid auf der kleinen Wiese spielte. Zwar sah die Tante das nicht gerne, weil sie die Familie Brecher >asozial< nannte, aber uns Kindern sagte dieser Begriff nichts. Außerdem mochten wir die Karla auch gerne, weil sie so verrückt war. Ihr rostrotes Haar und die vielen Sommersprossen auf der Nase, dann das lückenhafte Gebiss und ihre meist löchrige und schmutzige Kleidung passten zu ihrer flippigen Art mit den tollen Spielideen.
Eines Tages war Ingrid krank und Tante Jule musste mit Ingrid zum Doktor, so dass ich eigentlich nach Hause fahren wollte, was Karla aber verhinderte.
>Wir können doch so lange alleine spielen bis Ingrid zurück kommt. Oder musst du jetzt schon nach Hause kommen?< fragte sie.
Zögernd erwiderte ich: >Ich weiß nicht ob die Tante das erlaubt.< Das Mädchen schüttelte verwundert den Kopf und wollte wissen: >Wieso die Tante? Die hat doch sicher nichts dagegen. Nein, ich meinte deine Mutter, ob die schimpft wenn du noch nicht nach Hause kommst.<
Ich lachte, erklärte: >Meine Mutter ist doch noch arbeiten und meine Oma hat nicht gesagt dass ich früh zu Hause sein muss. Du meinst also der Tante Jule ist das recht wenn ich noch hier bleibe?< Dabei verschwieg ich ihr wohlweislich dass die Tante mir wohl befohlen hatte nach Hause zu fahren. Allerdings ohne Begründung. Und außerdem war ich ja draußen, nicht in Tante Jules Wohnung, also konnte sie nicht bestimmen ob ich blieb oder ging.
>Was soll sie denn dagegen haben? Die kennt uns doch!< sagte Karla im Brustton der Überzeugung.
>Eben!< sagte ich, meinte es allerdings nicht positiv, aber schließlich wollte ich nicht verraten, dass meine Tante die Brechers nicht mochte. Dennoch blieb ich.
>Und was spielen wir?< fragte ich entschlossen.
Karla zögerte einen Moment dann sagte sie geheimnisvoll: >Wenn du ein Geheimnis für dich behalten kannst, zeige ich dir was ganz, ganz tolles. Aber das darfst du wirklich keinem erzählen. Auch nicht deinen Freunden oder deiner Schwester und deiner Mutter schon gar nicht.<
Gott was konnte das wohl sein, ich platzte fast vor Neugierde, gab mich aber völlig gelassen. >Meine Schwester wäre die Letzte der ich ein Geheimnis erzählen würde. Aber so wichtig kann das doch nicht sein, dass du Angst haben musst, das es raus kommt.<
Читать дальше