Manon
Roman
Wilfried Bauer
Zum Buch:
Nach dem Tod ihrer Mutter und der Einweisung des Vaters in eine psychiatrische Anstalt, leben Jo und Ricky bei ihrem Onkel. Tom investiert das Erbe seiner Schwester in eine Gaststätte, die Waldschänke. Sein Traum: Selbstständigkeit. Ein langer, schwerer Weg. Vormittags verrichtet er seinen Job als Postbote, nachmittags, bis spät in die Nacht, führt er die Waldschänke.
Eines Tages entdeckt Ricky in der Stadt eine Frau, die aussieht wie seine verstorbene Mutter. Nachts, nach dem Besuch eines Lokals treffen Jo und Ricky auf die Doppelgängerin. Eine Schicksalsbegegnung.
Der Autor:
Wilfried Bauer wurde 1955 in Köln geboren. Er lebt mit seiner Familie in Brühl / Rheinland. Neben Anekdoten aus dem rheinischen Milieu schreibt er Kurzgeschichten. ’Manon’ ist sein erster Roman.
Impressum
Texte: © Copyright by Wilfried Bauer
E-Book printed in Germany 2019
ISBN: 978-3-750261-24-2
Published by epubli
Inhalt
Kapitel 1
Die unbekannte Frau
Manon
Tom erzählt
Entschlossen
Kapitel 2
Das neue Leben
Die Freundin
Gespräche
Kapitel 3
Sensation
Ricky im Elternhaus
Jo ist zurück
Ein überraschendes Angebot
Die Waldschänke bittet zu Tisch
Die Bar Madeleine
Applaus für Jo
Rückschläge
Verlockend
Die Wahrheit finden
Kapitel 4
Feier
Pläne
Endlich
Ob ich wieder so handeln würde? Manchmal denke ich nein, dann wieder ja. Ich weiß es nicht. Stünde ich noch einmal vor dieser Entscheidung: Wahrscheinlich würde ich wieder so handeln. Mit allen Konsequenzen.
Manon Jenin
Ich träumte ständig davon, der eigene Herr zu sein, der die schlechten Launen eines Chefs nicht ertragen musste. Wir Kollegen verstanden uns prima, aber hin und wieder bekamen wir irgendwelche durchgeknallten Typen vorgesetzt, die einem den Tag versauten. Ein Arbeitsleben lang? Das wollte ich nicht.
Tom Wächter
Kapitel 1
„Ein Euro, der Herr.“
Cool von ihm, mich mit ‚Herr‘ anzusprechen, dachte Ricky. Es wird nicht nur reine Nettigkeit sein, ich sehe verdammt erwachsen aus. Zwei Jahre noch, dann bin ich es auch vor dem Gesetz.
Ricky öffnete seine Jeansjacke, hob sie mit der rechten Hand an, schob seine linke Hand in die Seitentasche, um die Geldbörse herauszuziehen und dabei fiel sein Blick rechts in die Menschenmenge, die sich im Gang zwischen den Ständen quetschte.
Plötzlich stockte er. Sein Herz pochte heftig. Er atmete schwer. Ricky ließ das Portemonnaie stecken, ließ den Verkäufer verdutzt stehen, der schon die in Papier eingewickelten Salatköpfe mit einer Hand rüber reichte und die andere Hand zum Geldempfang aufhielt.
„Na dann eben nicht“, sagte der Verkäufer überrascht.
Der Kommentar des Gemüsehändlers interessierte ihn nicht. Ricky stierte nur auf die Dame, die wenige Meter vor ihm ging. Die Marktschreier, die lauthals ihre Ware anpriesen, hörte er nicht mehr. Wie unter einer Glasglocke nahm er das Treiben um sich herum wahr. Immer die unbekannte Frau fixierend lief er hinter ihr her und hätte fast einen alten Mann mit Gehstock umgerannt.
„Können Sie denn nicht aufpassen?“
„Oh, Entschuldigung, tut mir leid.“
Einen Moment lenkte ihn dieses Ungeschick ab und schon hatte er die Frau aus den Augen verloren. Heute, am Markttag, waren viele Menschen unterwegs, da verschwand schnell jemand im Getümmel. Hektisch schaute er nach allen Seiten. Wo ist sie? Verdammt, wo ist sie, die Frau, die ihn an Mutti erinnerte. Da! Dahinten ist sie! Er schob sich kreuz und quer durch die Menge, rempelte eine mit dicken Einkaufstüten bepackte Frau an.
„Unverschämt!“
„Entschuldigen Sie.“
Nicht ablenken lassen, Ricky. Wenige Meter von seiner Fata Morgana entfernt betrachtete er sie genauer: die braunen Haare seitlich gekämmt, eine Strähne in die Stirn fallend, der schlanke Hals, die schmalen Lippen, der rosa Teint. Die sportliche Figur steckte in engen Jeans und die Westernstiefel könnten aus Mutters Schuhschrank stammen. Das ist sie! Er beobachtete die Frau. Sie betrat eine Buchhandlung. Ricky sah durch das Fenster, wie sie mit der Verkäuferin sprach. Beide gingen in eine Ecke, die Verkäuferin holte aus dem Regal ein Buch hervor und gab es ihr. Die Frau schmökerte darin und ging zur Kasse. Dann verließ die Unbekannte das Geschäft. In seine Richtung fiel ein kurzer Blick. Schnell drehte er seinen Kopf weg. Sie hatte ihn nicht gesehen. Die Frau schlenderte an den Boutiquen vorbei, hielt einige Blusen und T-Shirts vor sich hoch, befühlte das Material, hing das Kleidungsstück zurück in den Ständer und ging dann wieder zum Markt. Ricky folgte ihr.
Zu Hause, noch leicht benommen, erzählte Ricky seinem Bruder, der konzentriert lesend in der Küche saß, von der unglaublichen Begegnung. Das Unfassbare musste sofort raus.
„Jo, ich habe sie gesehen.“
„Wen hast du gesehen?“
„Mutti.“
Jo ließ sich nicht bei seiner Lektüre stören, schließlich lag der Ausbildungsvertrag vor ihm. Im Herbst würde er in einem Hotel eine Ausbildung zum Koch beginnen. Er schaute nicht auf, fragte seinen Bruder beiläufig, ob er krank sei.
„Mess’ mal deine Körpertemperatur.“
„Ich weiß, es ist nicht möglich aber als ich sie sah, bekam ich einen Schreck, dachte, ich werde verrückt. Ich stand neben ihr am Obstmarkt und sie redete mit dem Verkäufer. Als ich ihre Stimme hörte, hätte ich sie fast an mich herangezogen. Ich zitterte und hielt mich am Stand fest, kämpfte gegen dieses Gefühl an. Ihre Stimme Jo. Ich sag’ dir ihre Stimme. ‚Alles in Ordnung, junger Mann?‘. Die Frau schaute mich an, mir verschlug es die Sprache. Sie griff in ihren Beutel und hielt mir eine Mandarine hin. ‚Die wird ihnen guttun‘, sagte sie. Vielleicht bemerkte sie, dass ich schwankte und mein Gesicht kalkweiß oder knallrot oder beides zusammen war. Ich nahm die Mandarine. Noch nicht mal ein ‚Danke‘ kam aus mir heraus. Ich muss wie ein Gestörter auf die Frucht in meinen Händen gestiert haben. Ich schaute auf, die Frau war in der Menschenmenge verschwunden. Jeden Stand, jeden Winkel suchte ich nach ihr ab.“ Ricky breitete die Arme aus, um dem Gesagten eine höhere Bedeutung zu geben. Jo blieb unbeeindruckt, hörte seinem Bruder aber aufmerksam zu.
„Endlich fand ich sie in einer Seitenstraße, verfolgte sie, immer auf der Hut, nicht von ihr gesehen zu werden. Nicht, dass sie dachte, sie würde verfolgt. Sie ging in das Stadt-Hotel.“
Ricky stockte und nach einem sehnsuchtsvollen Blick ins Leere, sagte er: „Ich spüre, dass diese Frau uns Glück bringen wird. Ich muss sie wiedersehen.“
Jo hatte wenig Verständnis für seinen Bruder.
„Dann stell dich vor dem Hotel auf die Lauer oder geh rein, setz’ dich im Vorraum in die weichen Sessel und wenn du sie siehst, rufst du ganz laut: Mama!“
„Ach Jo, hättest du sie nur gesehen und ihre Stimme gehört. Diese Frau möchte ich ständig um mich herum haben.“
„Eine Doppelgängerin oder eine Frau, die ähnlich wie unsere verstorbene Mutter aussieht, hat dich verstört. Du lebst zu sehr in der Vergangenheit, Kleiner. Ich bin genau so traurig wie du, aber wir müssen nach vorne denken, das will Mama bestimmt.“
„Heulst du auch manchmal nachts im Bett? Immer noch, nach mehr als einem Jahr?“
„Ja Ricky, das tue ich und das wird nie enden. Mama ist für immer und ewig in meinem Herzen. Weißt du was wir machen? Heut’ Abend gehen wir in der Parkkneipe einen trinken, schauen nach Mädchen, vielleicht ist Anne da, deine heimliche Liebe. Mit ihr kannst du dann flirten, danach geht es dir besser. Ich fahre mit dem Auto, dann fällt der Rückweg nicht so schwer.“
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