Die Polizei fand die alte demenzkranke Frau eine Stunde später mit einem Baby auf dem Arm. Während die Mutter noch angeregt mit der Freundin erzählte, krabbelte das Kind aus dem Wagen hinter einen Baum. Die Frauen, dem rollenden Kinderwagen entsetzt nachschauend, bemerkten nicht die alte Frau. Hinter dem Baum nahm sie das Kind auf den Arm und ging unbemerkt.
Die alte Frau wollte was Kleines, Kuscheliges, Lebendiges in den Armen halten.
Manon erwachte in einem dunklen Keller, auf einem Bett liegend. Ihre Hände fuhren an ihrem Körper entlang: Kleid, Jacke, Schuhe trug sie noch. Sie hatten sich nicht an ihr vergangen, noch nicht. Sie war weder gefesselt noch geknebelt. Die Schurken mussten ihrer Sache gewiss sein, sie hätte schreien können, niemand würde sie hören. Welches Martyrium stand ihr bevor? Vergewaltigung und Tod? Wäre das nicht schon längst geschehen? Erpressung der Eltern? Bei diesen Gedanken durchzog Übelkeit ihren Körper, durch die ungewohnte Position schmerzten die Glieder. Ein kleines Gitterfenster ließ die Sonne herein. Mittag, schätzte sie. Stille, es gab keine Geräusche: keine vorbeifahrenden Autos, keinen Lärm einer Baustelle. Das Haus schien verlassen.
Suchende Blicke nach ihrer Handtasche, in der ihr Handy lag. Nichts zu sehen. Eine ausweglose Situation. Ein Blumenstrauß in einer Vase mitten auf dem Tisch, darunter ein Zettel: Keine Angst, wir tun ihnen nichts. Was sollte das bedeuten? Manon setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände. Sie schloss die Augen. Nicht durchdrehen. Versuche dich zu erinnern. Was war letzte Nacht geschehen? Aufführung, Eltern, Karten, Weg zum
Hotel, Weg durch den Park, zwei Männer hinter ihr, dann nichts mehr. Vielleicht eine Verwechselung. Mit dem Schreiben und den Blumen wollen sie sich entschuldigen. Trotzdem, kriminelle Energie ist vorhanden, sonst hätten die Männer sie nicht entführt und eingesperrt. Vielleicht wollen sie mich mit dem Satz auf dem Zettel beruhigen, damit ich nicht in Panik gerate, bevor sie mit dem Martyrium beginnen. Oh mein Gott, ich hab’ solche Angst. Ich kann nicht hier sitzen und mich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Ich muss mich bemerkbar machen.
Der beschwerliche Weg führte mehrere hundert Meter die kleine Straße hinauf zur Waldschänke. Sein lang ersehnter Traum: die Gaststätte am Rande der Stadt. Leben konnte er davon nicht, gerade die Unkosten brachte das Lokal rein. Ohne den Job als Postbote hätte er das Lokal schließen müssen.
Die letzten Meter kosteten Kraft, der alte Drahtesel besaß nicht die beste Gangschaltung. Thomas Wächter sah Jo und Ricky auf der Eingangstreppe sitzen und sie begrüßten ihn.
„Hallo Tom, alles klar?“
„Hallo Jungs. Ich sehe, es geht euch prima. Ihr habt ein Leben, davon träume ich.“ Tom stellte das Fahrrad ab. Er atmete ein paarmal heftig durch. „Ich hoffe, ihr habt nicht den halben Tag vor der Tür rumgegammelt.“
„Wir putzten das halbe Haus“, sagte Ricky, „die Küche glänzt, die Kneipe strahlt. Ist uns verdammt schwergefallen, wir lagen spät im Bett.“
„Jungs, trinkt nicht so viel. Die Kneipe schau ich mir nachher an. Habt ihr das Mittagessen vorbereitet? Salat und Kartoffeln gekauft?“
„Natürlich Chef“, bemerkte Ricky.
Tom Wächter war Stolz auf die Jungs, sie hörten auf ihn, unterstützten ihn. Nach dem Tod ihrer Mutter, in dieser schlimmen Zeit, hätten sie aufgeben, einer Depression verfallen oder als Kriminelle enden können.
Die Entwicklung verlief in eine andere Richtung und daran gebührte Tom Wächter großen Anteil. Er erzog sie, baute sie ständig auf und die Verantwortung belastete ihn sehr. Das Jugendamt half, ein Vertreter vom Amt kam regelmäßig vorbei. Tom bewunderte das Talent der Jungen zu planen, gemeinsam zu arbeiten. Im Vergleich mit Gleichaltrigen waren sie weit erwachsener.
„Weißt du was, Onkel Tom? Wir müssen dir etwas beichten.“ Jo sagte das betont locker.
„Überfallt mich nicht direkt mit Horrornachrichten, ich muss erst mal nach Hause kommen, mich frisch machen, bin gespannt, was ihr mir zu sagen habt“, antwortete Tom, und ging dabei die Treppe hoch, stand auf der letzten Stufe und drehte sich um. „Hoffentlich ist es nicht so dramatisch.“
Gewissensbisse überfielen die Brüder, sie schauten verlegen auf den Boden. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, was sie letzte Nacht angestellt hatten.
In der Küche, gemeinsam beim Essen sitzend, fragte Tom, was sie denn auf dem Herzen hätten. Und als Jo mit den Worten begann, etwas Überraschendes sei passiert, hörten sie Geräusche aus dem Keller, als schlüge jemand mit der Faust gegen eine Tür.
„Was ist denn da unten los?“, fragte Tom.
Die Jungs schauten beschämt in der Gegend herum.
„Was seid ihr so kusch? Ihr verheimlicht mir was. Dann klären wir die Sache mal.“ Tom stand auf. Gemeinsam gingen sie die steile Treppe ins Souterrain hinunter.
Sie hörten, wie eine Frauenstimme verzweifelt rief: „Aufmachen, lasst mich hier raus! Aufmachen!“
Tom schloss die Tür auf und was er dann sah, verschlug ihm die Sprache: Eine ihm unbekannte Frau stand hinter der Tür.
Sie ging einen Schritt zurück, Tom fixierend.
Tom blieb stumm, stand mit offenem Mund da. Die Frau ähnelte seiner verstorbenen Schwester, dann platzte es aus ihm heraus.
„Ich glaube es nicht, was habt ihr gemacht?“
Ein Schrecken durchfuhr ihn: Das ist das Ende dieser Restfamilie. Die Bemühungen der letzten Jahre waren vergeblich. Wie konnten die Jungs ihn nur so enttäuschen? Jo und Ricky, standen da wie bestrafte Schulbuben, waren nicht in der Lage etwas zu sagen.
Manon schrie alle an. „Bevor hier noch irgendeiner den Mund aufmacht, gebt mir meine Handtasche zurück mit meinem Handy, damit ich auf der Stelle meine Eltern anrufen kann. Die machen sich verdammt Sorgen um mich, haben noch mehr Angst, als ich sie hatte und noch immer hab!“
„Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, Sie sind in guten Händen“, versprach Tom.
„Ricky, gehe hoch in die Küche, mach’ einen Kräutertee für die Dame. Jo, hole sofort die Handtasche“, befahl er. Jo öffnete seinen Kleiderschrank und gab der Frau ihre Handtasche. Manon schaute und durchwühlte sie.
„Verdammt, wo ist mein Handy?“
„Das hab ich letzte Nacht weggeworfen “,gestand Jo. „Damit das Teil nicht nervt.“
„Ihr habt Sie entführt? Du und Ricky? Ihr seid mit dem Auto gefahren? Hab mich gewundert, es stand schräg vor der Garage.“ Tom schaute fassungslos.
„Wir haben Sie nicht …“, Jo schluckte, „entführt, es tut uns leid. Wir wussten nicht was wir machen sollten.“
„Es ist allein meine Schuld“, gestand Ricky.
Manon schaute den Jungen genauer an, ihr war, als hätte sie ihn schon einmal gesehen.
„Ich sah diese Frau in den letzten Tagen öfter und verfolgte sie, dachte direkt an Mutti — solch eine Ähnlichkeit. Mutti ist nicht tot, sie lebt. Gestern Nacht, du lagst im Bett, da sind wir mit deinem Auto in die Stadt runter. Wir redeten über Mama, ich trank viel, und als wir nach Hause wollten, sagte Jo: Ich hab zwei Bier getrunken, wir müssen zu Fuß zurück, das Auto holen wir morgen ab. Wir sind nachts durch den Park und dann sahen wir sie. In dem dunklen Gang in der Nähe der Kirche holten wir sie ein. Ich wollte, dass Jo ihre Stimme hörte und sprach sie an, dann ist sie vor unseren Augen in Ohnmacht gefallen. Was sollten wir machen? Wir hatten Panik, hatten Angst für etwas beschuldigt zu werden, was gar nicht stimmte.“
Tom schüttelte den Kopf.
„Nachts, im menschenleeren Park, verfolgt ihr eine Frau, in einem düsteren Weg sprecht ihr, eine euch fremde Frau an. Konntet ihr euch nicht denken, dass die Frau Angst vor euch hat? Und dann entführt ihr eine wehrlose Person, Jo fährt betrunken mit dem Auto, ich pack’ es nicht.“
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