„Ich war nicht betrunken, hab nur zwei Bier getrunken und nicht an die null Komma null Promillegrenze gedacht.“
„Bitte, bevor ihr weiter erzählt, ich muss meine Eltern anrufen!“, unterbrach Manon.
„Ja, natürlich, hier nehmen Sie mein Handy.“
Tom reichte ihr sein Handy rüber.
Erst rief sie zu Hause an, keine Verbindung. Danach Papas Handy, das Adressenheft mit Telefonnummern fand sie noch in der Tasche.
Tom und Jo horchten gebannt.
„Hallo Papa, hier Manon. Macht euch keine Sorgen mehr, es geht mir gut. Ich komme bald zurück. Ja, nein, keine Entführung es ist alles geklärt, ich weiß nicht wo ich mich befinde.“
Tom flüsterte ihr zu: „In der Waldschänke, nördlich der Stadt, etwa drei Kilometer außerhalb, keine Polizei bitte.“
„Waldschänke, bitte keine Polizei Papa, ich bin wohlauf, alles ist in Ordnung, ich bekomme gleich einen Tee. Liebe Grüße an Mutti, ich liebe euch. Kommt vorbei und holt mich.“
Jetzt fiel alles von ihr ab, die Tränen liefen wie ein aufgedrehter Wasserhahn an ihr runter, Tränen der Erleichterung. Tom umarmte sie, drückte sie fest, und Manon zog ihn heran, ließ ihn nicht mehr los.
Fremde die wie ein Liebespaar einander hielten.
Mutter und Vater Jenin weinten vor Freude, als sie ihre Tochter in den Armen hielten.
Hubert, wütend auf die Jungs, wollte möglichst schnell weg. Er musterte die Jungs ausgiebig: Der zarte, blasse Ricky mit verspieltem Lockenkopf, ein Kind. Der größere, kräftigere Jo, dessen Kurzhaarschnitt zu einem sportlichen Jungen passte.
Beide standen mit herabhängenden Schultern und gesenkten Köpfen vor ihm. Kleinlaut und reumütig, wagten sie nicht ihn anzuschauen.
Die sehen nicht aus, als wären es Gewalttätige, dachte Hubert, die schauspielern nicht die Unschuldslämmer, ihre Reue kommt von Herzen. Es sind Jungs, die durch Alkohol benebelt in eine dumme Situation gerieten. Jeder Richter, die gnadenlosen ausgenommen, würde sie freisprechen.
„Ich bin ihnen sehr dankbar, dass Sie nicht die Polizei eingeschaltet haben“, sagte Tom.
„Natürlich stellten wir eine Vermisstenanzeige, was glauben Sie denn?“
„Dann ist die Polizei gleich hier?“
„Nein, die Bitten unserer Tochter nehmen wir ernst.“
Tom schaute Manon an, sie erwiderte wortlos seinen dankbaren Blick. „Darf ich Sie zum Essen einladen?“
„Äußerst ungewöhnlich. Nach dem ihre Jungen unsere Tochter entführten, genießen wir bei den Entführern ein Abendmahl zur Entschädigung und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen. Fast wie unter guten Freunden, sehr nett, Herr Wächter. Sie wissen nicht was ihre Kinder uns angetan haben, welche Sorge sie uns bereiteten, welche Ängste wir ausstanden, wie verzweifelt wir waren. Wir fahren ins Hotel und werden zwei Tage schlafen.“ Und an Manon gewandt: „Vorher bringe ich dich zu einem Arzt und du lässt dich untersuchen, schließlich bist du umgekippt, das Herz-Kreislaufsystem ist vielleicht beeinträchtigt. Herr Wächter, wir wissen nicht, welch seelische Schäden unsere Tochter davon getragen hat. Das hier, das ist noch nicht das Ende.“
„Verstehe ich. Nur eines möchte ich sagen: Diese Kinder, die Kinder meiner Schwester, litten durch den frühen Tod ihrer Mutter. Ihr Vater, ein Offizier, der zwei Jahre in Afghanistan diente, kam mit psychischen Störungen zurück und wurde in eine Nervenklinik eingewiesen. Ich bin ihr Ziehvater.“
„Ist das eine Entschuldigung für ihre Straftat?“
„Natürlich nicht, vielleicht geben Sie mir die Möglichkeit etwas aus ihrem Leben zu erzählen. Ich möchte nicht, dass Sie denken, es seien Gangster, unerziehbare Jugendliche oder verhaltensgestörte junge Männer.“
„Herr Wächter, mir brauchen Sie nichts erzählen, sprechen Sie mit der Leidtragenden, mit meiner Tochter, falls sie das will.“
„Später, ich brauche langen erholsamen Schlaf und dann freue ich mich auf die restlichen Aufführungen. Ich rufe Sie mal an“, versprach Manon. „Wir müssen einiges klären.“
Die Eltern saßen schon im Auto, Manon hatte die Tür zum Hintersitz geöffnet, zögerte einen Moment, schaute den, vor der Schänke stehenden Tom an, einige Augenblicke zu lang, dann stieg sie ein.
Dieser Blick, dachte Tom, dieser warme, dankbare Blick.
Es wurde Zeit die Waldschänke zu öffnen.
Er glaubte nicht, sie jemals wiederzusehen.
Welch eine Freude, als sie anrief. Ein langes Gespräch begann und drei Wochen nach ihrer ungewöhnlichen ersten Begegnung saßen sie in einem Eiscafé in Toms Stadt.
Eine Familie nahm am Nebentisch Platz, die Kellnerin brachte riesige Eisbecher und die Kinder bekamen große Augen. Ein Pärchen in der Ecke turtelte und sie schoben einander die Eislöffel in den Mund. Die Kinder verschmierten derweil die Sahne um den Mund und das Schokoladeneis tropfte von der Nase. Die Kinder übertrieben den Spaß, ein Eisbecher kippte um, die Mutter schimpfte, der Vater sagte nichts. Manon und Tom schmunzelten. Das Liebespärchen nahm die Umwelt nicht wahr.
„Was führte Sie in diese Stadt?“, wollte Tom wissen.
„Ich schickte eine Bewerbung für die Oper Carmen. Die Musical-Version sollte aufgeführt werden, dafür benötigten sie Sängerinnen und Sänger für den Chor. Als ich die Zusage hatte, fühlte ich mich grandios.“
„Oh dann sitzt mir eine Künstlerin gegenüber“, staunte Tom.
„Sagen Sie das besser nicht“, entgegnete Manon lächelnd. „Schließlich bin ich Laie und kein Profi, singe zum Spaß in einem Chor. Von Beruf bin ich Lehrerin an einer Grundschule. Eine Anzeige in der Zeitung für ein Casting, brachte mich auf die Idee, mich hier zu bewerben. Musikalisches Gefühl ist Voraussetzung, eine gute Stimme ist wichtig und sich beim Tanz nicht ganz so ungelenkig anstellen und natürlich ein bisschen Glück, dass man ausgewählt wird.“
„Wie lange liefen die Vorstellungen?“
„Fünf Wochen verbrachte ich hier.“
Manon erzählte von den Vorbereitungen, die gute Stimmung im Ensemble, oft besuchten sie den Park, lernten Texte, alberten herum. Dann nach einem fantastischen Auftritt die schlimme Nacht.
„Plötzlich standen sie vor mir, starr vor Schreck hörte ich nicht, was sie sagten und dann bekam ich nichts mehr mit.“
Tom hörte gebannt zu.
„Erschöpfung, gepaart mit Angst ließ mich in Ohnmacht fallen und erst nachmittags erwachte ich in einem Souterrain auf. Ich hatte Angst.“
Tom schüttelte den Kopf. „Ich pack das immer noch nicht, das sind keine schlechten Jungs. Tags darauf las ich in den Zeitungen atemberaubende Geschichten über den Entführungsfall einer jungen Frau. Eine Zeitschrift berichtete, es sei eine junge Frau von einem Sado-Maso-Pärchen entführt worden. Das Blatt beschrieb detailliert bestimmte Sexpraktiken. Ein anderes Journal behauptete, letzte Nacht hätte die Russen-Mafia eine junge reiche Erbin verschleppt und forderte den Rat der Stadt auf, endlich was gegen die Einwanderung der sogenannten Deutsch-Russen zu unternehmen. Für eine weitere Illustrierte stand fest, der Menschenraub sei ein Racheakt im Streit zweier großer Familien-Clans, die sich nicht integrieren ließen. Sie forderte die Polizei auf, eine Razzia bei den Sinti und Roma durchzuführen.
Ein Fall, drei Zeitungen, drei unterschiedliche Darstellungen, da ist wohl die Fantasie der Redakteure durchgegangen. Zwei Tage später erschienen Gegendarstellungen: Es gab eine Vermisstenanzeige, die am anderen Tag aufgehoben wurde. Voreilig schloss man auf eine Entführung. Die Zeitungen entschuldigten sich bei den Lesern wegen dieses Missverständnisses.“
Tom zuckte mit den Schultern.
„Möchten Sie mit den Jungs sprechen? Denen wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn Sie ihnen vergeben.“
„Das ist keine schlechte Idee. Noch etwas: Ich möchte mehr über Sie erfahren, Sie sind ein interessanter Mann.“
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