„Jo, wir gehen zu Fuß, ist zwar stressig, aber du hast doch gerade erst den Führerschein gemacht, willst du den direkt wieder verlieren?“
„Keine Sorge, ich trink’ nichts. Hauptsache mal raus hier. Du kannst dir ruhig einen ballern. Anschließend fahr ich mein besoffenes Brüderchen nach Hause und bring ihn ins Bettchen.“
„Jo, du wirst langsam erwachsen.“
„Dann lass uns das Mittagessen vorbereiten, Tom kommt gleich von seinem Halbtagsjob. Einen Sack Kartoffeln habe ich schon geholt. Hast du den Salat mitgebracht?“
„Ach Mist, den hab’ ich in der Aufregung vergessen. Ich war total durcheinander.“
„Mein Bruder, die Zuverlässigkeit in Person vergisst den Salat. Die Frau hat dir echt das Hirn ausgelaugt.“
Jo schob die Unterlagen in ein Kuvert, legte sie auf den Tisch und stand auf.
„Na gut, du verrückter Bruder du, dann werd ich mal in die Stadt fahren und den besten Kopfsalat der Welt kaufen. “
„Danke Jo, du bist mein Held.“
Seit Tagen stand ein blauer Himmel über der Stadt. Mütter mit ihren Kindern saßen im Schatten der Bäume, vereinzelt Lesende genossen die Sonne.
Die gepflegte Grünanlage strahlte eine friedliche, beruhigende Atmosphäre aus. Nicht weit entfernt lag der kleine Teich mit seinem Springbrunnen, eine Wasserfontäne spritzte in die Höhe, dessen Nebel je nach Windrichtung, eine Abkühlung bereit hielt.
Unter den Bäumen am Teich würde sie entspannen.
Manon sah eine niedliche Entenfamilie, die kleine Wellen auf ihrer Reise durch den Teich hinterließ. Sie setzte sich unter eine Eiche, mit dem Gesicht zum Wasser, legte sich mit dem Rücken ins Gras, schaute, der Sonne abgewandt, in den wolkenlosen Himmel.
Heute Abend kämen die Eltern, um die Aufführung zu sehen. Manon dachte an den Moment, an dem sie den Brief öffnete und die Zusage für ihre Bewerbung bekam.
Luftsprünge vollzog sie, ihre Seele umarmte die Welt: ’Carmen’ von Georges Bizet. Die beliebteste Oper der Welt, als Musical aufgeführt. Im Chor mit anderen, spiele sie ein Mädchen aus der Zigarettenfabrik. Mit Tanz und Darstellung. Die Termine lagen in den großen Schulferien, für sie, als Lehrerin optimal. Eine tolle Möglichkeit ihr Hobby, das Chorsingen, unter professionellen Bedingungen ausüben zu können. Nach der ersten Euphorie zweifelte sie: Worauf habe ich mich da eingelassen, habe ich mich überschätzt?
Der Tag kam und die chaotische Organisation verstärkte die Bedenken: verschiedene Hotels, verschiedene Mitspieler. Nachdem die Chorleiterin die Gruppe in die ungewohnte Welt eingeführt hatte, probten sie täglich vier Stunden. Bis das alles saß, die Lieder, die Tanzfolgen, die richtigen Einsätze.
Der Tag der Premiere kam, das Fieber und die Nervosität stiegen, in der kompletten Gruppe ging die Hektik reih um. Trotz dieser erregten Atmosphäre: Die Erstaufführung gelang, abgesehen von kleinen Fehlern, die niemandem auffielen. Das Publikum applaudierte frenetisch, sie genoss die stehenden Ovationen, es war Balsam für ihre Seele. Wir spielen Tag für Tag besser, stellte sie, mit einem Grinsen in den Himmel, fest.
Manon stand auf, streifte Falten und Gras aus dem Rock, ging gemütlich und zufrieden in ihr Hotel.
Am Essenstisch erzählte sie Swetlana und Pavel aufgeregt, die Eltern kämen, um sie auf der Bühne zu sehen. Hoffentlich sei sie nicht so nervös.
„Ach, das machen wir schon“, sagte Swetlana.
Nachmittags trafen Vater und Mutter nach dreistündiger Autofahrt im Hotel ein. Manon holte die Eltern am frühen Abend ab und sie spazierten gemeinsam Richtung Oper.
„Moment, ich gebe euch die Karten.“
Sie wühlte in ihrer Tasche.
„Sag bloß, ich hab sie im Hotel liegen lassen. Hier mein Schlüssel, ich muss hinter die Bühne, die Karten liegen auf dem kleinen Tisch.“
„Die finden wir schon.“
Kurz vor Beginn der Aufführung lugte Manon durch den geschlossenen Vorhang, ihre Augen tanzten die mittleren Reihen ab. Dahinten saßen sie, wunderbar.
Das Publikum nahm die Aufführung, wie an den vorangegangenen Tagen, begeistert auf.
Nach der Vorstellung warteten die Eltern auf ihre Tochter, umarmten und beglückwünschten sie. Morgen Vormittag würden sie sich wiedersehen.
In jener Nacht ging sie ermattet zum Gästehaus. Sie stand vor dem Eingang des Hotels, suchte in der Tasche nach dem Schlüssel: Verdammt, Haupt- und Zimmerschlüssel sind bei den Eltern. Kein Nachtservice. Ach, zwei Kilometer Fußweg zu ihrer Pension und wieder zurück. Taxi? Nein, ich krieg’ das hin.
Erschöpft bei der Pension angekommen, machte keiner die Tür auf. Wirt und Gäste schliefen, es nützte nichts, sie klingelte so lange, bis in dem Haus das Licht anging. Nach zehn Minuten öffnete ein missmutiger Wirt die Tür. Es dauerte, bis er begriff.
„Moment, ich wecke ihre Eltern.“
Mutter erschien.
„So was Dummes. Manon meine Ärmste, hier der Schlüssel. Entschuldigung.“ Sie umarmte ihre Tochter.
„Schon gut, Mutti. Schlaf gut.“
„Du auch mein Schatz. Warte, ich rufe dir ein Taxi.“
„Lass mal, ehe das hier ist, liege ich schon im Bett.“
Manon würde die Abkürzung durch den Park nehmen. Ein beklemmendes Gefühl erfasste sie, aber das sei eine friedliche Gegend, beruhigte sie sich. Und es sind weniger als zwei Kilometer. Sie schwankte Richtung Park. Müde von einem langen anstrengenden Tag, nachts, einsam, führte der Weg über die große Wiese in eine kleine Gasse, flankiert von Bäumen und hochgewachsenen Büschen. Der ohnehin schlecht beleuchtete Park war an dieser Stelle stockdunkel. Noch fünfzig Meter bis zum Licht der Straße. Schwer setzte sie einen Fuß vor den anderen. Plötzlich hörte sie ein Rascheln im Unterholz. Sie blieb erstarrt stehen, sah den Umriss eines Tieres den Baum hinaufschnellen. Puuhh, ein Eichhörnchen. Sie musste diesen Weg gehen, bald hatte sie es geschafft, gleich, es war nicht mehr weit. Die Schatten, die ihren Weg verfolgten, bemerkte sie nicht. Hinter dem nächsten Gebüsch lag die hell erleuchtete Straße. Sie hörte Stimmen, zwei Männer. Wo kamen sie her, was wollen sie von mir? Weglaufen! Schnell!
„Hallo, wir möchten mit ihnen reden“, rief einer.
Manon erschrak, sie brachte keinen Ton raus, ihr Herz klopfte rasend. Fremde, die sie bedrängten, keine Hilfe weit und breit. Dunkle Gestalten die immer näher kamen. Was wollen die von mir? Sie brach zusammen.
Jo fing sie auf, legte sie behutsam auf den Boden.
„Oh Jo, oh Jo, was jetzt?“, rief Ricky ängstlich.
Schlagartig ernüchterte er. Dass so etwas passiert, das hatte er sich nicht vorstellen können. Sein Bruder war genauso hilflos, stand wie angewurzelt da.
„Ich weiß nicht — erst aus dem Dunklen hier raus. Pack mit an, da hinten auf der Bank neben der Laterne legen wir sie hin und rufen einen Notarzt.“
Rickys Hände zitternden, die Stimme bebte hektisch.
„Toll! Wonach sieht das Ganze hier aus? Nachts im Dunklen eine ohnmächtige Frau und zwei Typen? Ich sage es dir: Überfall, versuchte Vergewaltigung. Aus der Nummer kommen wir nicht raus.“
„Wenn die Frau ehrlich ist, dann ja.“
„Und das weißt du?“
„Natürlich nicht, fühl ihren Puls. Wenn der zu schwach ist, rufe ich sofort den Krankenwagen an.“
Ricky zitterte. „Mach du, ich krieg’ im Moment nichts geregelt.“
Jo nahm ihre Hand, fühlte oberhalb ihres Handgelenks die Arterie nach der Herzfrequenz ab.
„Mist, ich finde nichts.“ Jo drückte den Daumen fester. „Leg ihre Füße hoch, setz dich und leg ihre Füße auf deinen Schoß.“
Jo suchte weiter. „Ich habe was, schwach und unregelmäßig. Sie muss was trinken. Wasser. Wo kriegen wir Wasser her?“
„Vom Teich“, sagte Ricky. „Ist was dreckig, giftig ist es nicht.“
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