Sie entdeckte andere Welten. Welten, die ihre Vorstellungskraft anregten, geheimnisvolle Welten, die nur in Büchern lebten.
Nach dem Abitur studierte sie Literatur in Frankfurt, zog in eine Studentenbude mit mehreren Frauen. Andrea nicht mehr bei mir zu haben, tat weh, ich war traurig. Stell dir vor: Ihr Bruder, einundzwanzig Jahre jung und betrübt, als seine zwei Jahre jüngere Schwester auszog. In diesem Alter streiten viele Geschwister, sind froh, wenn sie nicht mehr aufeinander hocken. Die Zeit aus dem Nest zu fliegen war gekommen. Meine Piratin setzte mit Elan die Segel und stürzte hinein in das Abenteuer Großstadtleben.“
Manon bemerkte Toms melancholische Miene. Müdigkeit überfiel ihn. „Ich könnte stundenlang zuhören“, sagte sie. „Aber wir beide brauchen etwas Schlaf. Rufen Sie mir bitte ein Taxi.“
„Mache ich. Nur, wann komme ich dazu, alles zu erzählen? Der neue Tag ist angebrochen und ich bin aufgewühlt.“
„Gut“, schlug Manon vor „dann trinken wir einen Espresso.“
„Es ist recht frisch geworden“, sagte Tom, „wir nehmen unsere Gläser mit und setzen uns in die Küche.“
Tom stellte die Espressomaschine an.
„Machen Sie es sich auf einem der Sofas bequem.“
Tom kam mit den kleinen Tassen rüber. „Zucker?“
„Bei Espresso immer.“
Tom rührte mit dem kleinen Löffel den Zucker um, dann erzählte er die Geschichte weiter.
„Andrea arbeitete nach dem Studium in einem großen Verlag in Frankfurt als Lektorin. In Frankfurt lernte sie ihren späteren Mann Daniel kennen und sie heirateten 1989. Zu dieser Zeit waren unsere Eltern tot. Erst starb unsere Mutter, ein Jahr später unser Vater. Daniel, dem Offizier ging es finanziell gut, Andrea ebenso und bald kauften sie ein Eigenheim in Frankfurt. Es lag in einer abgeschiedenen, malerischen Siedlung, mitten in der hektischen Großstadt.
Ich sah meine Schwester selten, erst bei der Hochzeit lernte ich meinen Schwager kennen. Davor pflegte ich meine Vorurteile: Warum heiratet Andrea einen eigensinnigen Typ, einer, der es gewohnt ist Befehle auszuteilen, dessen Leben Disziplin und Gehorsamkeit ist. Sie, die unorthodoxe, spontane Frau. Das passte nicht zusammen. Ich staunte, er war alles andere als ein Stinkefinger, sondern locker, hilfsbereit und unterhaltsam, ein gern gesehener Gast, bei offiziellen Empfängen, auf privaten Partys.
Andrea strahlte vor lauter Glück. Bald kam Jonas zur Welt. Andrea gab ihren Beruf auf. Zwei Jahre später gebar sie Richard. Ihre Ehe, das war eine Bilderbuchehe, zum neidisch werden.
Die Idylle platzte erst, als der Befehl zur Einberufung nach Afghanistan kam.
In diesem Frühjahr zählten Jo und Ricky fünfzehn und dreizehn Jahre, beide gingen aufs Gymnasium. Die Zwei wussten, was es bedeutete in einem Kriegsgebiet den Dienst zu verrichten: Die Möglichkeit bestände, Vater käme in einem Sarg zurück. Ich war viel zu beschäftigt, um mir darüber Gedanken zu machen. Ab und an telefonierte ich mit meiner Schwester, tröstete sie, spielte die Trennung herunter: Nur zwei Jahre und ihr geliebter Mann käme zurück.
Die tapfere Frau managte den Haushalt, unterstützte Jo und Ricky bei den Hausaufgaben, was nicht einfach war und beruhigte die Zwei, es würde alles gut gehen.“
Tom hielt kurz inne, erzählte über die Ereignisse nach Daniels Rückkehr, sein Verhalten gegenüber der Familie.
„Rief ich Andrea an, sagte sie: Endlich ist Daniel wieder da, ich bin so froh. Was sie und die Söhne damals erleiden mussten, erfuhr ich später von den Jungs. Sie belog mich, weil sie wusste, wie ich reagieren würde. Ich hätte mich ins Auto gesetzt und hätte ihn mit einem Knüppel empfangen. Gut, es ist nicht so gekommen, der kranke Mann war selber ein Opfer.
Die Jungs fielen mit ihren Leistungen rapide ab. Unfassbar bei solchen Musterschülern. Der Klassenlehrer verstand das nicht. Er spürte: Etwas stimmte nicht. Daniel gab jede Menge Ausflüchte zum Besten: Keine Zeit, Stress, zurzeit die Jungs vernachlässigt. Ist bald vorbei. Keine ergiebigen Antworten für den Herrn Wolter, der blieb hartnäckig. Er ging tags darauf mit Jo und Ricky zusammen nach Hause. Die Jungs wehrten ab, die Mutter sei nicht da, der Vater auf der Arbeit. Diese Ausreden, die impulsiv rüber kamen, machten Wolter misstrauisch. Sie fanden Andrea reglos auf dem Bett mit einer Fessel an ihrem Fuß. Daniel musste panische Angst gehabt haben, dass seine Frau ihn verlassen könnte. Andrea starb an einem Kardiogenen Schock, ausgelöst durch stressige Erlebnisse. Daniel war schuld an ihrem Tod.“
Tom musste innehalten. Manon standen die Tränen in den Augen.
„Daniel Lohse kam in Verdacht seine Frau umgebracht zu haben, zumal er an diesem Tag nicht in der Kaserne erschien. Die Fahnder der Militärpolizei fanden ihn in einer Kneipe, im Bahnhofsviertel. Er hockte betrunken am Tresen. Die Feldjäger machten kurzen Prozess, führten ihn ab, in die Ausnüchterungszelle der Kaserne, alles Weitere folgte am nächsten Tag.“
Tom verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, schaute mit leerem Blick, er brauchte einen Moment um weiter zu sprechen.
„Jo und Ricky heulten mehrere Tage und innerlich weinen sie noch heute. Bei der Obduktion der Leiche fand man keine Merkmale äußerer Gewaltanwendung. Der Staatsanwalt klagte ihn wegen Freiheitsberaubung an. Nach einer ärztlichen Untersuchung sperrten sie ihn in eine Nervenheilanstalt.
Dort ist er auf unbestimmte Zeit eingesperrt — ein Drama. Um die Söhne kümmerte ich mich. Ich war die einzige Person denen die Kinder vertrauten und das Jugendamt bot keine bessere Alternative.
Die nächsten Monate waren mit Mühsal beladen. Jahrelang ging es mir nicht gut, bis — bis ich eines Tages eine mir unbekannte Frau in den Armen hielt, die mich fest umklammerte, als wolle sie mir sagen: Lass mich nicht mehr los. Und ich dachte in diesem Augenblick: Dich lasse ich nie mehr los.“
Manon, die, im Umgang mit Männern, so reservierte, unterkühlte, fast ängstliche Frau, zog Tom an sich heran und küsste ihn.
„Tom.“
„Manon.“
Manon schrieb einen englischen Satz an die Tafel und hörte hinter ihrem Rücken einige Schüler aufgeregt flüstern. Hatte ihre Lehrerin einen Fehler gemacht? Sollten sie ihr das sagen? Maike traute sich. „Frau Jenin, sie haben das Wort falsch geschrieben. Am Ende kommt ein kleines t.“
Manon, nahm einen Meter Abstand zur Tafel. „Ach, tatsächlich.“ Mit einem Lappen wischte sie den letzten Buchstaben weg, korrigierte den Fehler. Beschämend, dachte sie: Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Ein großes ‚T’ für meinen Tom?
„Gut aufgepasst Maike. Das habe ich extra verkehrt geschrieben, ich wollte sehen, ob ihr es merkt.“
Diese Ausrede stieß bei den Schülern auf heftige Kritik.
„Frau Jenin“, entgegnete Frederik. „Jetzt wissen wir demnächst nicht, ob ein Wort, das Sie an die Tafel schreiben richtig oder falsch ist.“
Manon kam in Erklärungsnöte.
„Da habt ihr recht. Das war ein einmaliger Test, den ich nicht wiederhole. Demnächst schreibe ich alles richtig und ist ein Wort verkehrt, dann habe ich mich wirklich vertan.“ Konnten die Kinder mit dieser Erklärung zufrieden sein? Irritierte das die Schüler? Schnell ging sie darüber hinweg.
„So, noch eure Hausaufgaben: Lernt bitte die Vokabeln von Kapitel drei. Darüber schreiben wir in der nächsten Stunde einen Vokabeltest.“
Murren unter den Schülern. Manon verließ die Klasse, mit Gedanken über ihr Verhalten: Warum hast du nicht einfach gesagt, entschuldigt, es war mein Fehler?
Froh den Arbeitstag beendet zu haben, betrat sie den Lehrerraum. Sie platzte hinein in eine erregte Diskussion über Vertretungsstunden.
Alle verstummten, schauten ihre Kollegin an, als hätten sie die Lösung gefunden.
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