Die Gute vermachte mir in ihrem Testament hunderttausend Euro. Erst lehnte ich es ab, dann las mir der Notar ein Schreiben von Andrea vor. Diese Sätze vergesse ich mein ganzes Leben nicht mehr: mein lieber Bruder, du wunderbarer Mensch. Wie oft hast du mich gestützt, wie oft hast du mich getröstet, wie oft hast du mir neuen Lebensmut eingehaucht. Obwohl es dir selber nicht gut ging, unter deiner gescheiterten Ehe gelitten hast, dann die Arbeitslosigkeit, das haute dich um. Immer bist du aufgestanden, hast dich neu motiviert. Falls ich vor dir sterbe, vermache ich dir ein Teil meines gesparten Geldes. Ich weiß, kommt der Tag, dann wirst du dich weigern das Geschenk anzunehmen. Nimm es bitte, du wirst es gebrauchen. Für Jo und Ricky ist gesorgt. Ich liebe dich. Andrea.“
Tom und Manon verharrten einen Augenblick.
„Sie liebten sie sehr“, beendete Manon das Schweigen und wollte Einzelheiten zu Andreas Tod wissen.
„Das ist eine traurige Geschichte“, antwortete Tom.
„Ich schildere sie ein anderes Mal. Falls es ein anderes Mal gibt.“
„Gerne“, sagte Manon: „Ich bin neugierig auf die Fortsetzung.“
„Das freut mich, ich möchte Sie wiedersehen. Ich kann Sie zum Bahnhof fahren.“
„Nein, Sie haben was getrunken und ich gehe gerne zu Fuß, ich entspanne dabei. Es ist ja nicht so weit.“
„Wann sehe ich Sie wieder?“
„Morgen.“
„Morgen? Heute zweihundert Kilometer hin und zurück und am nächsten Tag noch mal?“
„Ich habe für ein paar Tage ein Hotel gebucht. Mir gefällt die Stadt.“
„Großartig.“
Gäste betraten die Schänke.
Manon genoss den sonnigen Tag und erschien erst am späten Abend in der Waldschänke. Tom saß alleine am kleinen Tisch neben der Theke.
„Guten Abend.“
„Guten Abend, ich dachte Sie kommen nicht mehr. Nichts los und das an einem Samstagabend. Die Jungs sind auf ihren Zimmern. Ich schließe die Schänke, dann setzen wir uns in den Garten.“
„Sie haben noch einen Biergarten hinter dem Haus?“
„Das ist ein kleiner Privatgarten.“
Sie gingen durch die Küche, an deren Ende eine Tür zum Garten lag. Eine überdachte Terrasse, ein großer Tisch stand in der Mitte, daran acht Stühle. Die Terrasse wurde von ein paar Sträuchern begrenzt, dahinter, in der Dunkelheit verschwindend, ein Nutzgarten.
„Haben Sie öfter Besuch?“
„Ab und an kommen ehemalige Kollegen oder Freunde von Jo und Ricky. Wir sitzen oft draußen, wenn es die Zeit erlaubt. Jo und Ricky machen hier gerne ihre Hausaufgaben.“ Tom zündete mehrere Windlichter an. „Darf ich ihnen ein Glas Wein anbieten?“
„Gerne. Einen trockenen Rotwein, bitte.“ Tom holte eine Flasche Wein, Gläser und Salzgebäck zum Knabbern.
Sie ließen die Gläser klingen.
„Cheers. Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind.“
„Ihre Geschichte hat mich so fasziniert, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Was geschah mit ihrer Schwester Andrea?“
Tom blickte in die Nacht, schloss die Augenlider, öffnete sie wieder und erzählte die folgende Geschichte:
„Wir standen füreinander ein, als Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Kamen wir in Schwierigkeiten, half der eine dem anderen aus der Klemme, wir sprachen über unsere Ängste und Nöte. Bestraften uns die Eltern für unser Verhalten, spendeten wir einander Trost. In der Regel gehorchten wir, erbosten wir Vater oder Mutter gab es Stubenarrest, das wenige Taschengeld kürzten sie. Andrea half mir mit ein paar Groschen aus oder spendierte ein Kaugummi. Wir unterliefen die elterlichen Sanktionen. Schläge gab es nicht, unsere Eltern waren in dieser Beziehung fortschrittlich. Mit Stubenarrest kriegten sie uns klein, für uns die schlimmste Strafe.
Wir liefen ständig draußen rum, in den herrlichen Sommerferien den ganzen Tag. Wir genossen die Freiheit auf dem Land.
In Urlaub fahren konnten unsere Eltern nicht, zwei Wochen, drei Wochen unvorstellbar. In der Schule wussten wir nicht viel zu erzählen über fremde Länder. Andrea berichtete staunend nach dem ersten Schultag, wo die Schulfreundinnen mit ihren Eltern hinreisten: Frankreich, Schweiz, Schwarzwald.
Andere fuhren mit ihren Eltern nach Italien, ein Land unendlich fern.
Wir wollten wissen, wo das lag, und suchten im Atlas nach den Ländern, ahmten die Sprache nach, rieten, was der andere gesagt hatte und welche Landessprache es war. Wir fantasierten rege, da kam ein Kauderwelsch zusammen.
Wörtlich krieg ich das nicht mehr zusammen, gesponnene komische Sätze: „Memeti Pivetti sotto. Was heißt das?“, fragte Andrea. „Dieses Jahr gibt es dicke Kirschen“, narrte ich.
Andrea rief zu meinem Erstaunen: „Richtig! Und wer sagte das?“
„Ein Italiener“, antwortete ich siegesgewiss.
Sie hüpfte in die Luft und rief: „Stimmt nicht!“
Entsetzt fragte ich: „Warum? Das war italienisch.“
„Es sagte kein Italiener, ha, ha.“
Sie sprang vor Freude, klatschte in die Hände. Urplötzlich machte sie eine ernste Miene.
„Es war, es war, es war —.“
„Sag! Sag!“
„Es war eine Italienerin!“ Kissenschlacht.
Wir alberten herum und gackerten so laut, dass die Hühner antworteten.
„Lustig“, sagte Manon, „da denke ich an meine Schüler, unter ihnen gibt es einige alberne Exemplare.“
Tom erzählte weiter.
„Im Fernsehen zeigten sie einen Bericht über das italienische Essen: Ein Herr saß vor einem Teller mit dünnen, riesenlangen Nudeln und kämpfte damit sie zu verzehren. Ein Kellner brachte dem Gast eine Schere. Der Mann mit vollgestopftem Nudelmund, die bis zurück in den Teller ragten, nahm die Schere und schnitt die Nudeln unterhalb des Kinnes ab und der Sprecher sagte: andere Länder, andere Sitten.
Da wollten wir später mal hin, allein schon wegen der Nudeln. Trotz Schulferien ging es zu Hause lebhaft zu, ein paar Kinder liefen immer herum. Wir streunten durch die Wälder, badeten im See, machten eine Grasschlacht und anschließend lagen wir faul rum. Die Regentage verbrachten wir in einer selbst gezimmerten Baumbude mit Nachbarskindern und lasen uns schaurige Geschichten vor, die wir ausmalten, bis wir Gänsehaut bekamen. Das spielte Anfang der Siebziger, ich war zehn und Andrea acht Jahre.
Johannes, der gleichaltrige Nachbar und Klassenkamerad küsste eines Tages Andrea auf den Mund. Andrea gestand mir eines Abends ihre Verfehlung und ich begriff nicht, dass ein Kuss süß schmecken kann. Ausgerechnet von Johannes mit den schlechten Zähnen und dem Pickel auf der Nase. Sie war zum ersten Mal richtig sauer auf mich, ich verstünde ihr verliebt sein nicht. Ja, dieses Empfinden konnte ich nicht verstehen.
„Ach, du hast keine Ahnung“, kreischte sie mich an. „Du hast ja noch nie ein Mädchen geküsst“, ließ ihren Kopf in das Kissen fallen und schaltete das Licht aus. Wir teilten uns ein Zimmer. Hoffentlich bekommt sie kein Kind, dachte ich. Stimmt, ein Mädchen hatte ich bisher nicht geküsst, warum sollte ich? Es ging mir doch gut.
Jeden Tag galt es etliche Abenteuer zu bestehen. Eine Geliebte wäre in allen Belangen hinderlich. Mit einer Ausnahme: eine Piratin wie meine Schwester. Eine die schneller lief als die Jungen, die auf jeden Baum kletterte bis in die höchsten Spitzen, die sich besser versteckte als alle und wütend war wie ein Junge, wenn die versuchten sie zu täuschen.
Dass aus ihr eine elegante, schicke Frau werden sollte, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Die Jahre vergingen. Nach der Schule begann ich eine Lehre zum Mechaniker. Andrea bekam ein eigenes Zimmer auf dem Dachboden. Dort verbarg sie sich tagelang, las gerne Bücher, verschlang alles, was ihr in die Quere kam, sogar den Klassiker Goethe.
Sie war auf einmal ganz anders drauf, nicht mehr die streunende Katze, die es ständig nach draußen zog.
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