Er wurde dann durch den Hustenanfall eines Kollegen in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Jochen sah an dem Hufeisen entlang in der Hoffnung, möglichst viele Anzeichen von ‚Nun lasst uns mal langsam Schluss machen’ zu erkennen. Er kam jedoch nicht dazu, Andeutungen hierfür oder für andere Befindlichkeiten wahrzunehmen, da sein Blick schon nach wenigen Augenblicken Lisa erreichte und bei ihr blieb.
Plötzlich hatte er das eigentliche Ansinnen seines Rundblicks vergessen. Während er Lisa ansah, ging ihm durch den Kopf, dass er mit der eigentlich auch mal flirten könne, nur so zum Spaß, um zu sehen, ob sie drauf anspringe; um seine derzeitige Form zu überprüfen sozusagen.
Die ist links, engagiert, trägt Grobgestricktes, isst wahrscheinlich außer Salat nur Obst und Körner und sammelt für Hausbesetzer. Eigentlich vergeudete Zeit.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb reizte es ihn, es auf einen Flirt mit dieser Frau ankommen zu lassen. Mit ‚ulkig’, ein Wort, das er häufig in undurchsichtigen Situationen gebrauchte, und leichtem Kopfschütteln entfernte er die Gedanken an den Flirt mit Lisa und hoffte weiter auf ein baldiges Ende der Konferenz.
Noch einmal traf sein Blick - zufällig - auf sie, die sich plötzlich mit kreideweißem Gesicht an ihrem Stuhl hochstemmte, wobei sie sich auf die Lehne des Nachbarstuhls stützte, hierbei ausrutschte und sich - fast wie in einer unbeholfenen Umarmung - an einer Schulter und einem Oberschenkel von Frau Doktor, die neben ihr saß, festklammerte. Frau Doktor, deren Oberschenkel wahrscheinlich seit längerem keine Fremdeinwirkungen mehr gespürt hatten, stieß einen spitzen Schrei aus, drehte unangenehm berührt ihren Kopf von dem Fremdkörper weg und war im Übrigen offensichtlich überfordert. Nun nahmen auch die anderen wahr, was geschehen war. Renata - wer denn sonst, dachte Jochen - eilte mit einem Ausdruck, in den sie Mitleid und Hilfsbereitschaft zu gleichen Teilen untergebracht hatte, zu Lisa, stützte sie und während sie mit ihr den Raum verließ, drehte sie ihren Kopf noch einmal zu der Versammlung und sagte mit einer Stimme, die man eigentlich nur von Befehlen kennt:: „Hier müsste dringend gelüftet werden!“
Das stimmt ausnahmsweise, dachte Jochen und hoffte, dass es nichts Ernstes sei, und er sagte sich, dass aus dem Flirten heute dann ja wohl nichts mehr würde. Aber wie dem auch sei, diese Gelegenheit sollte man nicht ungenutzt vorübergehen lassen.
„Ich schlage vor, wir beenden die Sitzung für heute. Ich zumindest bin auch am Rande meiner Aufnahmefähigkeit. Außerdem ist es halb sieben.“
Die meisten nahmen Jochens Vorschlag erleichtert auf. Auch Jürgen stimmte zu, nicht ohne sein Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck zu bringen.
„Hoffen wir, dass es Lisa bald wieder besser geht..“
Hoffen wir, dass du an deinem Schleim nochmal erstickst, dachte Jochen.
„Was war denn mit Lisa los?“, wandte sich Rolf beim Herausgehen an Jochen, „vielleicht schwanger?“
Er habe keine Ahnung, meinte Jochen, und ‚schwanger’ könne er sich bei der schon gar nicht vorstellen, vielleicht sei es ja wirklich nur die verqualmte Luft gewesen, außerdem interessiere ihn im Augenblick auch mehr ein schönes kühles Bier.
Jochen merkte, dass die Anspannung, die er nach Konferenzen oft spürte, langsam nachließ. Mit jedem Bier nahm das unangenehme Druckgefühl im Kopf, das sich mitunter bis zu leichten Schwindelanfällen steigerte, ab. Entspannt nahm er die Stimmen an seinem Tisch wahr, hörte, wie sich fachliches Nachgeplänkel langsam in Klatsch und Tratsch und Frotzeleien auflöste. Er begann sich wohl zu fühlen, obwohl er schon wieder in Rolfs Nähe saß, in der Kellerkneipe, in der sie sich immer für ihre Teilnahme an einer Konferenz mit Speis und vor allem Trank belohnten.
Die ersten Witze machten die Runde, wobei sich Rolf wie immer mächtig ins Zeug legte. Sein Reservoir schien unerschöpflich.
Erst jetzt bemerkte Jochen, dass Lisa ihm genau gegenüber saß, an einem anderen Tisch zwar und durch einen Gang getrennt, aber genau in seiner Blickrichtung. Hat sich ja schnell erholt, dachte er.
Sie unterhielt sich angeregt mit ihrer Nachbarin. Stimmengewirr rundherum, das immer wieder in Gelächter anschwoll, hinderte ihn daran herauszuhören, worüber sie sich unterhielten.
„Ganz toll - hätteste sehen müssen - proppenvoll - vielleicht mal zusammen - wirklich ganz toll - Kreuzberger Trampelpfad“ und ähnliche Gesprächsfetzen drangen zu ihm durch. Jochen gab es bald auf herauszukriegen, was so toll gewesen war. Trotzdem sah er weiter zu Lisa hinüber. Er nahm überrascht ihr intensives Lächeln wahr, das hin und wieder durch Blicke begleitet wurde, die so strahlend wirkten, dass ihm ‚Achtung Verletzungsgefahr’ durch den Kopf schoss. Er vergaß seine Blicke abzuwenden, schien vor sich hinzuträumen, als Lisa, die zufällig in seine Richtung sah, diesen Blick bemerkte. Sie wandte sich wieder ihrer Gesprächspartnerin zu, sah dann jedoch erneut zu Jochen hinüber, der weiter in ihre Richtung zu träumen schien, zog ihre Augenbrauen hoch, kräuselte die Stirn leicht, drehte sich wieder zu ihrer Nachbarin und setzte das Gespräch fort.
Nennt man das ‚Fisch an der Angel’ ohne Köder oder sonst irgend etwas zum Anbeißen? , dachte Jochen. Quatsch!
Er tauchte wieder in die Unterhaltung seiner Nachbarn am Tisch ein.
Trotzdem möchte ich’s gern wissen.
Er bemerkte, dass er sich kaum noch auf die Gespräche an seinem Tisch konzentrieren konnte. Also versuchen wir’s mal.
Und so, als ob er wieder vor sich hin träumte, sah er in Lisas Richtung, mit Erfolg. Irritiert suchte und mied sie im Sekundenwechsel seinen Blick, dann sah sie sich plötzlich eingeschleust und hielt stand.
Na prima, dachte Jochen und ließ seine Blicke wie ‚weltabgewandt’ mal über mal neben Lisas Kopf gleiten, und um die Irritation perfekt zu machen, holte er sich dann mit deutlich sichtbarem Kopfschütteln und tiefen Atembewegungen gleichsam wieder auf die Erde zurück, räusperte sich leicht, wandte sich demonstrativ wieder seinen Nachbarn zu. Diese variierten inzwischen mit Hingabe das Thema ‚Wusstest
du schon, dass’. Selbst Kolleginnen und Kollegen, die schon vor einer Weile zu erkennen gegeben hatten, dass sie heute Abend hier nicht alt werden würden, tauchten wieder voll ins Geschehen ein. Von irgendwoher hörte er „Fanselow dieser geile Bock“, während an seinem Tisch Kollegin Rita die Regie übernommen hatte.
„Ich habe sie doch selbst gesehen, eng umschlungen, im ‚Delirium’. Und die Küsse sahen auch nicht gerade nach Freundschaftsbussis aus. Ja wirklich, frag Hanne, die war mit. „ Stimmt’s nich Hanne?“ Und weiter sprudelte es aus Rita heraus: „Den Typ hättet ihr mal sehen sollen, geschniegelt und gestriegelt, hätte mich nicht gewundert, wenn der auch noch ne Krawatte umgehabt hätte.“
Jetzt geht die Phantasie mit ihr durch, dachte Jochen, Krawatte, Symbol des maroden Kapitalismus und des miefigen Spießertums, undenkbar bei einem Freund von Lisa.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die ganze Zeit von Lisa die Rede war.
Lisa also mit einem Freund im ‚Delirium’, und geschniegelt war er auch noch. Auf Deutsch, Lisa ist mit einem Macho liiert. Quatsch, wieso eigentlich liiert, wieso Macho?
Wahrscheinlich nur ein Freund auf Müslibasis, aus der Homoszene wahrscheinlich, von wegen gestriegelt. Von Freunden aus dieser Szene hatte er sie schon reden gehört. Außerdem hatte sie doch neulich auch von ihrer Beziehung zu einem ‚richtigen Handwerker’ erzählt. Voller Überzeugung hatte sie dargelegt, wie wichtig es sei, die Barrieren zwischen Arbeitern und Intellektuellen zu überwinden. „Nur so kann man die Grundlage dafür schaffen, dass man gemeinsam ein Bewusstsein entwickelt, das die Gesellschaftsstrukturen verändert. Zum Beispiel haben wir in unserem Stadtteilladen durch diese Strategie erreicht, …“
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