Selbst Annie vergaß ihren Verdruss und ließ sich durch die Tür schieben. Geschenke? Was konnte das sein?
Ihr Vater lotste seine Kinder in Richtung der Ställe. Im Korral stand Midnight Maiden. Beim Näherkommen erkannte Annie die große, blau-weiß gestreifte Stoffschleife, die um den Hals des Pferdes gebunden war. Überantwortete der Vater ihr die wertvolle Stute? Nach all den Jahren?
Annies Herz begann zu singen. Colonel Bailey drehte sich lächelnd zu ihnen um. Christophers kleine Hand glitt in ihre. Vor Aufregung hüpfte er auf und ab.
»Midnight Maiden soll ab sofort dir gehören – mein Sohn.«
Eine Faust traf Annie in den Magen.
»Sie ist das beste Pferd, das ich kenne. Deine Schwester wird dir Reitunterricht geben.«
Christopher drängte sich verunsichert an Annie. Sie drückte seine Hand und kämpfte tapfer gegen die Tränen, die wie ein Hochwasser in ihr aufstiegen.
»Es ist ganz schön groß!«, flüsterte der Junge skeptisch.
»Ach was, das wirkt nur von unten so. Außerdem ist sie schon alt. Nicht mehr so spritzig wie damals, als Annie auf ihr reiten gelernt hat.«
»Welches Reittier soll ich nehmen, solange ich hier bin?« Annies Stimme kam brüchig aus ihrer ausgetrockneten Kehle. Sie biss sich auf die Unterlippe, damit ihr Vater nichts bemerkte.
Der lachte ein weiteres Mal übermütig auf. »Lass uns drinnen mal nachschauen.«
Zögerlich folgte Annie ihm in den dämmrigen Stall. Christopher ließen sie draußen am Gatter zurück, wo er ängstlich sein erstes eigenes Pferd anstarrte.
»Du kannst dir jedes Ross aussuchen, das du haben willst.« Großzügig deutete der Colonel auf die Boxen.
Obwohl im Laufe des Krieges viele Pferde an die Armee verkauft worden waren, blieb Annie eine große Auswahl. Der Knoten in ihrem Magen zog sich fester zusammen. Das eine Tier, das sie liebte, war vergeben.
Ohne Elan folgte sie ihrem Vater die Stallgasse hinunter, während er nach links und rechts zeigte und begeistert die Vorzüge jedes einzelnen Pferdes hervorhob. Die Fuchsstute war besonders sanftmütig, der langbeinige Schimmel daneben feurig, ein grauer Hengst hatte Preise im Viertelmeilenrennen gewonnen, sein Nachbar hatte einen edlen Kopf samt edler Gestalt, der falbe Kaltblüter hatte keine Besonderheiten außer seinem sturen Charakter. Annie machte sich eine mentale Notiz. Andere zeichneten sich aus durch Schnelligkeit, ein gesundes Gebiss, eine unvergleichlich graue Farbe, einen sanften Gang, Explosivität und Intelligenz. In Annie wuchs der Drang zu schreien. Zum Glück erreichten sie endlich die letzte Box.
»Und dann haben wir noch dieses Kerlchen hier.«
Überrascht stellte Annie fest, dass sie diesen nachtschwarzen Hengst mit dem kleinen weißen Stern auf der Stirn noch nicht kannte. Nervös tänzelte er hin und her und legte die Ohren zurück, als sie behutsam nähertrat. Sofort war das Mädchen hellwach.
»Darf ich vorstellen: Midnight Madness. Der Sohn von Midnight Maiden und Pitch Black Darkness. Du hast bestimmt vom Zuchthengst der Howlands gehört?«
Annie nickte atemlos. Pitch Black war eine Legende. Er hatte in fast jedem Rennen, in dem er antrat, eine Medaille geholt. Eine Stute von ihm decken zu lassen, kostete ein Vermögen und die Howlands waren wählerisch, wem sie ihre Gunst gewährten.
»Madness wird im Juni vier Jahre alt. Einer leichten Reiterin wie dir sollte es bald möglich sein, mit dem Zureiten zu beginnen«, stellte ihr Vater betont beiläufig fest. In seinen Augen jedoch tanzte der Schalk.
Annies Herz schlug schneller. Mit so einem Tier konnte sie beweisen, dass sie mit edlen Rennpferden umzugehen wusste. Es konnte der Beginn einer neuen Zuchtlinie werden und ihr den Respekt der anderen Züchter einbringen. Wollte ihr Vater das mit dem wertvollen Geschenk ausdrücken? Dass er ihr, was Pferde betraf, vertraute? Dass er bereit war, die Zukunft des Gestüts in ihre Hände zu legen, wenn sie Erfolge bei der Ausbildung des Hengstes vorweisen konnte? Ihre Beine fühlten sich wacklig an. Annie schluckte die Tränen hinunter, bevor sie sich Bahn brechen konnten.
»Du sagst ja gar nichts. Gefällt er dir nicht?«, fragte ihr Vater.
Annie schniefte geräuschvoll. »Er ist wunderschön! Natürlich entscheide ich mich für ihn!«
Ihr Blick verschleierte sich. Noch nie hatte sie so tiefe Dankbarkeit und Liebe empfunden. Ihrem Vater gegenüber, aber auch gegenüber dem großen, ungezähmten Satan in der Box. Bevor sie sich versah, schloss ihr Vater sie in die Arme.
»Weine nicht, meine Große! Ihr beide passt perfekt zusammen! Ich weiß es!« Kaum hörbar fügte er hinzu: »Deine Mutter hätte es so gewollt. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.«
Für den restlichen Vormittag war Annie nicht mehr aus dem Stall zu locken. Noch wagte sie nicht, die Tür zu Midnight Madness’ Verschlag zu öffnen. Stattdessen lehnte sie sich an die Wand daneben und sang ihm mit schiefer Stimme Kirchenlieder vor, damit er sich an ihre Gegenwart und ihren Klang gewöhnte. Als sie anfing, Gedichte zu rezitieren, stellte er seine Ohren auf. Statt dem angsterfüllten Weiß der Augen zeigte er einen neugierigen, intelligenten Blick. Schließlich schnupperte er an dem Apfel, den Annie ihm auf der flachen Hand anbot. Offensichtlich war Madness ihr Geruch nicht völlig zuwider. Er senkte mit einem erleichterten Seufzer sein weiches Maul herab und schnappte sich den Leckerbissen. Der Hengst wirkte so zufrieden, dass Annie kichern musste. Sofort stoppte die Kaubewegung. Madness’ Ohren bewegten sich in alle Richtungen.
»Ist schon gut, Nessi!«
Annie begann wieder leise zu singen. Sie nahm den Moment mit geschlossenen Augen in ihrem Herzen auf. Die Wärme; die Ruhe; der süßliche Geruch nach Pferd. Ja, so sollte es sein. Hier war ihr Platz und würde es immer sein. Heute beim Abendessen würde sie endlich mit ihrem Vater und Theresa darüber sprechen.
Annie legte als Erste Gabel und Messer zur Seite. Vor Aufregung war ihre Kehle wie zugeschnürt.
Die Füllung aus Brot, Kräutern und getrockneten Trauben quoll aus dem Truthahn, der zur Hälfte aufgegessen auf der Tafel stand. Auch vom Maisbrei war noch eine halbe Schüssel übrig, genau wie von den Bohnen und den gegrillten Kürbiswürfeln. Am Tisch herrschte Schweigen; zumindest beinahe. Seit Christopher zur Tür hereingekommen war, plapperte er vor sich hin. Weder der abwesende Gesichtsausdruck seines Vaters noch das Missfallen Theresas, die noch steifer als sonst dasaß und eine Schnute machte, störten ihn. Hoffentlich vergaß er nicht ihre Abmachung.
»Und dann hat sich Annika hinter mich aufs Pferd gesetzt und wir sind sooo schnell über den Schnee galoppiert.«
Scheibenhonig.
Theresa schnappte zischend nach Luft. »Das geht nun wahrlich zu weit! Bartholomew, ich habe geschwiegen, als du unserem kleinen Sohn dieses Monster geschenkt hast. Auch Reitstunden habe ich zugestimmt. Immerhin ist er dein Erbe. Ich erkenne das an. Aber dass du ihn diesem Mädchen anvertraust und sie durch die Gegend galoppieren – das ist zu viel. Es hätte weiß Gott was passieren können! Er hätte …«
Colonel Bailey hob abwehrend die Hand. »Ich verlasse mich auf Annika, was Pferde anbelangt, zu einhundert Prozent. Wenn du unseren Sohn während meiner Abwesenheit nicht so verhätschelt hättest, wäre er schon ein passabler Reiter! Das holen wir jetzt nach.«
Wütend zerknäulte Theresa die Serviette auf ihrem Schoß und starrte ihren Ehemann mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Der schob sich ein Stück Truthahn in den Mund. Selbst Christopher war verstummt. Sein Blick wanderte zwischen seinen Eltern hin und her.
Annie musste eine Entscheidung treffen. Ihr Vater stellte sich selten gegen seine zweite Ehefrau und noch seltener tat er das zugunsten seiner Tochter. Diese Gelegenheit musste sie nutzen! Darauf, dass ihre Stiefmutter ihr jemals Wohlwollen und Respekt entgegenbringen würde, konnte sie noch hundert Jahre warten! Eher würden die Menschen fliegen lernen.
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