Heute hatte ich mich nicht für einen dunkelblauen Anzug, sondern die schwarze enge Hose und das unverschämt stromlinienförmige Jackett samt dünnem schwarzen Schlips entschieden, was im Büro schon zu Verwunderungen geführt hatte. Ich hatte mich also bei weitem nicht seriös herausgeputzt. Deshalb erkannte sie mich vielleicht nicht sofort. Mal sehen, was sie nun tat, dachte ich dann. Ganz unauffällig postierte ich mich gegenüber, letztlich wusste ich nicht, ob sie wirklich verzweifelt gewesen war. Schon der Gedanke, diese faszinierende Frau zu beobachten, bewirkte ein Kribbeln im Bauch, wie damals als Kind, als ich versuchte, in der Weihnachtsnacht die Geschenke auszuspionieren. Mein Magen kribbelte seltsam und in meinem Kopf kämpften Für und Wider gegeneinander. Jedoch genoss ich dieses Gefühl im Moment, wie das Verlangen, den Blaubeermuffin zu essen, den ich dabei hatte. Obwohl ich satt war. Sie betrat den Laden wieder. Recht panisch stürmte sie in den Laden zurück. Eher gestolpert, denn gegangen. Und nun stand sie vor mir, ihr Gesicht voll von Wasser aus den dunklen Wolken meiner Entsagung und tatsächlich ihrer Seele entsprungenen Tropfen voller Emotionen. Gerne hätte ich sie umarmt, aber sie vollgesogen, wie ein Schwamm, wäre es ungesund für uns beide.
Moment, was hatte ich da eben gedacht? Klang sehr nach billiger Entschuldigung. Meine Chance, ganz einfach ein kleiner Gentleman-Held zu sein!
Sie sah so niedlich, auch bemitleidenswert und hübsch zugleich aus, dass es mir wehtat. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, leider kannte ich nicht mal ihren Namen. Noch immer sah sie auf ihre Schuhe, die das einzig wasserabweisende Kleidungsstück zu sein schien. Dann betraten glücklicherweise wieder ein paar wichtige Fragen meinen Kopf. Die erste Frage, die ich sie beantworten lassen wollte, war:
Wen hatte ich hier vor mir? Kaum hatte ich mich ihr langsam weiter genähert, wurde ich sehr unsicher. Da stand sie vor mir mitten auf dem Bürgersteig vor einem Billigrestaurant. Plötzlich drehte sie sich um und ich nahm ihren Blick wahr. Darin lag so viel Schmerz, dass meine Skepsis mundtot davonschlich. Nun begann sie mit jeder vergangenen Sekunde zu lächeln. Mich zu erblicken, dauerte etwas. Ihre nun blauen Augen betrachteten mein Gesicht einnehmend. Beide Hände zuckten kurz, als wolle sie mich berühren. Es schien ihr vollkommen egal zu sein, was um sie herum geschah.
Einfach beginnen, ist in solch einer Situation immer gut: „Liebe Freundin, was nur ist passiert? Geht es dir besser?“
Kurz bleib sie ganz starr und dann reckte sie sich ein wenig, ihr Nacken sah eben und straff aus. Ihre Lederjacke glänzte vor Wasser. Sie nickte, senkte ihren Blick und errötete leicht.
„Mmmmh“, antwortete sie mir zustimmend.
Ihre Augen waren rot umrandet, die zarten Wangen vom Spurten noch angeregt und rötlich gefärbt. Sie kniff ihre Augen und ihre Lippen zusammen. Alles hier hatte ich zunehmend als unpassend für sie und mich empfunden. Nicht niveauvoll genug für eine solche Situation. Wir schienen hier nicht her zu passen, weder der Ort noch die Zeit passten.
Kurz holte ich Luft und erklärte: „Meinetwegen so ein Engagement? Da kann ich doch nicht einfach verschwinden oder gar so schnell aufgeben.“, gab ich mich doch hoffentlich elegant zu erkennen.
Noch ein wenig länger und es drohte, peinlich zu werden. Nicht nur für mich, auch für sie. Erstmal musste sie aus dieser durchnässten Garderobe und dieser Situation befreit werden. Meine Töchter lehrten mich, solche Gegebenheiten recht gut zu meistern. Zwar möchte ich mir nicht vorstellen, sie als eine Tochter zu sehen, doch benötigt sie meine Hilfe. Zaghaft bot ich ihr meine Hand an. Doch sie sah mich fragend an.
Ich flüsterte: „Komm mit mir.“
Wenn sie wollte, konnte sie sich gegen meinen Wunsch widersetzen. Meine Gedanken gingen zu einer Dringlichkeit über, ihr aus diesem Schrecken zu helfen, dass ich über mich erstaunt war. Doch sie folgte meinem Impuls, wie ein Luftballon an einer Schnur. Vertraute sie mir, weil ich auf sie gewartet hatte?
„Und all die Tränen meinetwegen? Das tut mir leid. Und bei so einem Wetter ohne Hut oder Regenschirm unterwegs?“ , flüsterte ich ihr besorgt zu.
Ich erinnerte mich an ihre so witzigen Worte vom Freitag. Das Taschentuch in meinem Mantel kam endlich mal sinnvoll zum Einsatz. Ach, ich überließ es ihr gleich. Bloß nicht zu fest wischen, sonst geht womöglich noch das verwässerte, hinfort fließende Makeup noch mehr kaputt, wünschte ich mir. Obwohl, sie schien gar nicht so viel Makeup aufgetragen zu haben, als ich mir das Taschentuch beiläufig interessiert ansah, welches sie mir zurückgab. Der dankende Augenaufschlag bestärkte mich in meiner Idee, ihr in trockene Kleidung zu verhelfen. Denn ich wollte mit ihr ein Gespräch führen. Mein Bemühen zeigte Wirkung. Merklich entspannte sie sich, als wir zusammen unter meinem Regenschirm vor der Tür standen.
„Tut mir leid, aber … “ , stammelte sie und schaffte es nicht, noch einmal Luft zu holen.
Jenes wundervolle Date schien auch bei dieser erstaunlichen Frau stark angekommen zu sein. Zwei Male entfuhr ihr ein Aufatmen. Sollte das etwa ihre Erleichterung bedeuten, um alles gerade verflogene abzuschütteln? Natürlich sah ich sie heimlich an. Die Lippen bebten noch etwas, während der Blick viel entschlossener wirkte. Mir wurde klar, dass dies wie ein Märchen sein würde. Darum nehme ich meine Rolle nun an, sie, diese schöne Frau, zu verzücken.
„Die Tube verspätete sich und in Saint Paul‘s dauerte es einfach zu lange. Ich wollte doch wissen, ob deine Tochter … “ , schnitt ich dann unhöflich einfach ihr Bemühen ab, um ihr noch etwas mehr Zeit zu geben.
„Olivia geht es viel besser. Mir aber auch. Das war ein wirklich guter Tipp. Bist du Mutter oder Lehrerin?“ , hakte ich gleich mal einen Punkt ab.
Mutter wäre die perfekte Antwort. Lehrerin ginge auch noch.
„Nein. Ist das schlimm?“ , erreichten ihre Worte mein Hirn und bewirkten totales Chaos.
Moment mal, brüllte es in mir, sie ist weder Mutter noch Lehrerin und gab mir einen dermaßen guten Tipp? Psychologin vielleicht?
Au weia! Was war sie dann?
„Nein, sag doch so etwas nicht. Sei doch fair zu dir selbst und mir. Aber sieh nur, ich habe Ausdauer bewiesen und nicht aufgegeben, um dich wiederzutreffen.“, flüsterte ich ihr zu.
Rätsel über Rätsel bauten sich heute um mich herum auf. Doch nun drehte ich mich zur Straße hin und winkte ein Taxi heran. Dann erleichterte mich all diese Unsicherheit, denn ich musste mehr erfahren, viel mehr. Ihren Namen, ihre Geschichte, einfach nur mehr. Langsam entstand ein Plan, was ich tun wollte. Ihre neue Garderobe aufbessern und mit ihr essen gehen.
„Faszinierend! Komm, das Taxi hält“ , griff ich nach ihrer Hand.
Meine Neugier war geweckt. Schnell leitete ich diese wundervolle Frau zum haltenden Taxi, in der Hoffnung, sie spielte ihre Rolle genauso engagiert, wie ich eben auch. Weg von dem Laden mit all den Fremden, die nichts über unser Tête-à-Tête wissen sollten. Es war mir wirklich wichtig. Vertraute sie mir, wäre ich einen Schritt weiter. Aus dem Augenwinkel fiel nun ein Mann auf, dem ich schon zweimal heute einen Blick zugeworfen hatte. Ein Verfolger womöglich. Weshalb sollte ich bloß verfolgt werden? Nachdem ich ihr ins Taxi geholfen hatte, folgte ich ihr, bestellte sogleich, die 145-147 Regent Street anzusteuern. Die Zeit der Fahrt um den St. James Park sollte reichen, sie auszuhorchen. Ab und an schaute ich mich um, ob uns ein Taxi folgte. Doch anscheinend hatte ich mir dies eingebildet oder wir hatten den Verfolger überrascht. Mehr, mehr, mehr wissen, erschien mir angebracht und auch von diesen beunruhigenden Vorkommnissen abzulenken. Zwischen uns beiden bestand irgendetwas Spezielles.
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