»Er wollte meinen alten Namen erfahren.«
Ric sah mich erst entgeistert an und sprang dann auf.
»Was zur Hölle erlaubt er sich? Das kann er nicht! Das darf er nicht! Scheiße, Anders, sag mir, dass du ihm nicht deinen alten Namen verraten hast!«
»Es widerspricht den Richtlinien, also nein, ich habe ihm diesen Gefallen nicht getan.«
Das beruhigte den Italiener ein wenig. »Wenigstens etwas. Dann hast du den Papierkram damals wohl doch gelesen. Weiß irgendjemand hier im Nabel deinen Kindernamen?«
Ich schüttelte den Kopf und musste dabei an Leander denken. »Niemand, aber sie haben auch Lehmann nach unten in den Keller bestellt. Drei Räume weiter.«
Jetzt wurde aus dem roten wütenden Gesicht meines Chefs ein bleiches. »Sicher? Woher weißt du das?«
Ich überlegte kurz, entschied mich dann aber für die Wahrheit. »Wir haben uns zufälligerweise getroffen, als wir beide die Nachrichten auf unsere Uhren bekommen haben.«
»Und wo ist Lehmann jetzt?«
Nun würde ich einen steifen Hals bekommen, wenn ich nicht aufstehen würde, also rappelte ich mich auf und schulterte meine Sporttasche. »Er ist noch nicht herausgekommen. Ich warte hier jetzt schon fast eine Stunde.«
Riccardo fluchte etwas Unverständliches auf Italienisch und wandte sich dann wieder an mich.
»Du gehst ohne Umwege sofort zu mir nach Hause. So wie ich dich kenne, weißt du wo ich wohne und Zugang findest du bestimmt auch. Ich meine es ernst, Lilly. Keine Widerworte. Nicht jetzt. Ich hole Lehmann da jetzt raus.«
Geschockt starrte ich Ric hinterher, wie er mit eiligen Schritten zum Nabel lief. Seine Anweisung war mehr als deutlich und natürlich wusste ich, wo Ric wohnte. Mein siebzehnjähriges Ich war damals auf der Suche nach neuen Verstecken für Assistenzen gewesen, als ich plötzlich auf dem Balkon von Rics Dachgeschosswohnung stand.
Wenn mein Freund gerade in Gefahr war, dann würde ich einen Teufel tun und einfach verschwinden, um mich in dieser stickigen, nach Zigaretten stinkenden Wohnung zu verstecken. Ich versuchte Ric unauffällig zu folgen, doch ich kam nicht weit. Als ich laute Stimmen aus dem Eingangsbereich vernahm, ging ich hinter den Mülltonnen in Deckung.
»Ich wusste davon nichts, Moretti. Du kannst dir sicher sein, dass ich die Angelegenheit selbst untersuchen werde«, sagte eine Stimme, die ich erst heute Morgen zuletzt gehört hatte. Edward Parker.
Ich vernahm von Ric ein verächtliches Schnauben. »Verarschen kann ich mich selbst. Dr. Martin sitzt direkt unter dir. Lilly Anders zu neuen Erinnerungen zu befragen ist das eine, aber wieso werden andere Sammler auch noch in die Sache verwickelt? Wieso sollte Lehmann irgendetwas dazu wissen? Wenn er jetzt nicht mehr im Nabel ist, wo ist er dann? Ich kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht aus dem Haupteingang raus ist.«
Ich schielte zwischen den Tonnen hindurch und sah, wie die beiden Männer wenige Meter vor dem Eingang stehen blieben.
»Von einer Befragung wusste ich nichts. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich hier nicht nur so übertrieben aufregen würdest, sondern mir auch noch ein paar Details verrätst. Sonst kann ich in der Sache auch nichts unternehmen. Was hat Lilly Anders dir erzählt?«
»Übertrieben aufregen? Wenn du wüsstest, was für Fragen gestellt wurden! Vollkommen unangebracht!«, redete sich Ric in Rage. »Kümmere dich lieber darum herauszufinden, wo Lehmann ist. Ich verliere keinen meiner Sammler. Und glaube ja nicht, dass ich den Vorfall so stehen lasse. Ich werde nun selbst Nachforschungen betreiben. Wenn ich Leander Lehmann nicht bis Ende der Woche wiedergesehen habe, betrachte ich meine Verschwiegenheits-erklärung als nichtig an.«
Der letzte Satz schien einen wunden Punkt ausgelöst zu haben, denn Parker schien nun in der Tat nervös.
»Du weißt, dass du dann dem Nabel verwiesen wirst.«
»Sì, das ist mir aber gerade ziemlich egal. Wenn es um meine Sammler geht, verstehe ich keinen Spaß. Bis Ende der Woche sehe ich Lehmann wieder. Man sieht sich.«
Ich duckte mich tiefer, als sich Ric von Parker abwendete und in meine Richtung kam. Aufmerksam achtete ich darauf, nicht von ihm gesehen zu werden. Der Richtung nach zu urteilen, war er auf dem direkten Weg nach Hause. Um dann herauszufinden, dass ich dort nicht war. Ich drehte mich wieder um, doch Parker war bereits weg.
Bewegungslos blieb ich einige Minuten hocken und überlegte, was ich nun machen sollte. Edward Parker hatte entweder gut gelogen oder er wusste wirklich nichts. Es bestand auch die Möglichkeit, dass es das Ziel selbst war, das ein weiteres Mal nach mir gefragt hatte. Das wiederum hatte zur Folge, dass entweder Dr. Martin direkten Kontakt zu den Zielen hatte oder es einen Mittelsmann gab, der die Informationen weitergeleitet hatte. Aber Moretti wusste mehr, als er zugab. Ich war mir sicher, dass es irgendeine bisher unbekannte Verbindung zwischen ihm und Leander gab. Ric hatte einen Beschützerinstinkt gegenüber seinen Sammlern, die er vor Jahren – als er selbst noch Ausbilder war – selbst herangebildet hatte. Für Leander jedoch würde er seine Verschwiegenheitserklärung ignorieren und sich aus dem Nabel schmeißen lassen. Aber wieso?
Ich stand auf und fiel in einen leichten Laufschritt. In dem Tempo müsste ich es vor Riccardo zu seiner Wohnung schaffen. Er sollte schließlich nicht wissen, dass ich ihn belauscht hatte. Meine zweite Frage würde ich nicht einfach so verfallen lassen. Eigentlich wollte ich ihn fragen, aus welchem Kinderheim mich der Nabel abgeholt hatte, denn mit dieser Information wäre ich einen großen Schritt weiter auf der Suche nach mir selbst. Stattdessen würde ich Moretti fragen, was er über Leander Lehmann wusste. Und danach, mit dem hoffentlich ergiebigen neuen Wissen, würde ich meinen Freund unversehrt finden. Das Ziel von heute früh und auch mein altes Ich, beides musste warten. Meine Priorität hieß nun Leander.
Zwei Minuten konnte ich auf dem Balkon verschnaufen und mich mental auf das Gespräch vorbereiten, dann hörte ich, wie die Haustüre aufgeschlossen wurde. Ich saß auf dem einzigen Stuhl, hatte meine Beine lässig auf dem kleinen Beistelltisch vor mir abgelegt und die Sporttasche schräg über die Schulter gehängt. So würde es bei Ric hoffentlich den Eindruck erwecken, dass ich hier schon eine ganze Weile länger als nur zwei Minuten auf ihn gewartet hatte. Er öffnete die Balkontüre und brachte damit den widerlichen Geruch von Zigaretten nach draußen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien er überrascht, aber doch erleichtert, mich zu sehen.
»Gut. Dann hast du ja doch mal auf meine Anweisungen gehört.«
Wenn du wüsstest, Moretti. Der Gedanke brachte mich innerlich zum Schmunzeln.
»Ich will gar nicht wissen, wie du hier rauf gekommen bist.«
»Würde ich dir auch nicht sagen. Lehmann nicht mitgebracht?«, fragte ich gelassen und war gespannt, wie viel Wahrheit mir Ric erzählen würde.
»Nein«, wich er aus. Ich suchte seinen Augenkontakt. Würde er mir ins Gesicht lügen können?
»Dann wurde er immer noch befragt?«, bohrte ich weiter.
Er brach den Augenkontakt ab. Er bereitete sich gerade vor zu lügen. Ich unterbrach ihn, bevor er überhaupt den Mund geöffnet hatte.
»Ich möchte meine zweite Frage einlösen«, entgegnete ich bestimmt und stand auf, um mit meinem Chef auf Augenhöhe zu sein. Seine Antwort würde nun entscheiden, ob er mich respektierte oder nicht. Doch etwas hinderte mich meine Frage zu stellen, denn wenn ich Ric nach der Verbindung zu Lehmann fragen würde, flog wahrscheinlich auf, dass ich ihn belauscht hatte. Was war mir wichtiger? Mein Freund oder mein Handeln im Hintergrund?
»Welche Verbindung gibt es zwischen dir und Lehmann?«, platzte ich heraus und ging zur Sicherheit auf die Seite des Balkons, an der ich herauf geklettert war, um – wenn nötig – möglichst schnell verschwinden zu können.
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