Tags drauf inspizieren wir, was unsere Trauzeugen sich über ein Inserat in einem Anzeigenblatt mieteten. Ihr Haus steht dort, wo die Kurven die Hochebene hinauf enden. An sich würde das Domizil eher zu uns passen. Jedenfalls dem Namen nach. Casa Colonia. Der Eigentümer lebt nicht weit von uns in Deutschland entfernt. Die Hütte selbst: einfach, klein, aber zweckmäßig geschnitten und eingerichtet sowie je nach Geschmack traumhaft gelegen. Aus dem Wohnraum beziehungsweise von der Terrasse aus schaut man über die Insel, über das Meer, bis hinüber nach Ibiza. Einzig kleiner Haken: die Strände liegen knapp 150 Meter tiefer – man kann nicht alles haben. Zwar verläuft der Römerweg, ein steiniger Pfad, unmittelbar vor beziehungsweise unterhalb des Hauses, doch wer möchte alltäglich zum Baden oder mit Einkaufstaschen beladen über den blanken Fels der Steilküste kraxeln? Insofern schon sinnig, das Angebot des Hauses direkt mit Auto.
Einen der darauf folgenden Tage verbringen wir am Strand. Das Wetter ist herrlich, das Meer glatt, alle guter Dinge. Sind die Frauen in Zeitschriften und Bücher vertieft, kümmern Rüdiger und ich uns darum, dass auch den Kindern nicht langweilig wird. Irgendwann rollt ein Ball. Fußball geht immer. Tore werden abgesteckt, Mannschaften gebildet, anschließend wird gebolzt – soweit vier Zöglinge im Vorschulalter es zulassen. Doch egal, es geht weder darum technisch zu brillieren noch Meisterschaften zu gewinnen. Alle sollen bloß ihren Spaß haben. Mit einem Male ist es damit vorbei. Gerade noch versuchte Rüdiger elegant den Ball zu lupfen, plötzlich ein Aufschrei sowie ein schmerzverzogenes Gesicht. Im Eifer des Gefechts traf er einen Stein. Natürlich barfuß. Pusten und Streicheln lindern die Pein kaum. Wie zudem unschwer selbst für Laien erkennbar: irgend etwas stimmt nicht. Der kleine Zeh steht ungewohnt ab. Nach zwei Tagen Humpelei wird ein Fachmann konsultiert. Über das Wochenende soll es so nicht weiter gehen. Birgit fährt Rüdiger zur ärztlichen Ambulanz. Ein Krankenhaus existiert auf der Insel zu diesem Zeitpunkt bestenfalls in den Vorstellungen einiger Köpfe. Als die beiden zurück sind, ist der Fuß bandagiert. Eindrucksvoller hingegen, was Rüdiger über den Verlauf der Behandlung berichtet. Nach einem prüfenden Blick hätte es vom Spezialisten im weißen Kittel eine Spritze in den lädierten Zeh gegeben. Wenig später habe der Arzt unseren Freund angelächelt und gefragt, ob der Schmerz weg sei. Rüdiger habe zurück gelächelt und bestätigt – alles wieder gut. Das Ende der Therapie? Mitnichten. Lediglich der Moment ab dem der Doc davon ausging, dass die lokale Betäubung wirkt und Startschuss für die eigentlichen Maßnahme: ein beherzter Griff zum Fußglied der seinen Abschluss darin findet, dass dieses zurück gelangt in seine ursprüngliche Form. Der Moment, in dem es Schluss war mit lustig. Rüdiger hätte die Wand hochgehen können. Mit den Worten, dass er das gebrochene Körperteil schonen solle, ward er statt dessen entlassen. Eine Empfehlung mit Folgen.
Am nächsten Tag der Entschluss, gemeinsam doch mal einen anderen Strand aufzusuchen. Tapetenwechsel, sozusagen. Schwangen wir uns bei unserem ersten Urlaub zu viert dazu einfach auf die Sitzbänke unserer Roller und gaben Gas, so ist es zu acht schon nicht mehr gar so einfach, gilt es auch noch diverse Badeutensilien sowie Strandspielzeuge zu transportieren. Luftmatratze, Schwimmringe, Bälle, Handtücher, Schüppen, Eimer und was nicht alles. Auf die Schnelle ein zweites Auto dazu mieten? Uncool. Ein Fiat Bambino richtig bepackt ist ein wahres Raumwunder. Sieht man dem Fahrzeug von außen gar nicht an. Die Kinder sind von der Idee begeistert. Einmal im „Kofferraum“ mitfahren – so und nicht anders soll es sein. Vom Grundsatz her ist die Idee einfach. Wie mit den Elefanten und den Telefonzellen. Hier: Heckklappe öffnen, Gepäck rein, drei Kinder oben drauf, Klappe zu, fertig. Jedenfalls fast. Mit dem Rest ist es nicht viel komplizierter. Seitentüren auf, Rückenlehnen der Sitze nach vorne klappen, Frauen auf die Rücksitzbank, das verbliebene Kind dazwischen beziehungsweise auf den Schoß, Lehnen wieder zurück, Männer auf die Vordersitze, Türen zu, Abfahrt. In Anbetracht des zu schonenden Zehs trifft es mich, den Platz hinter dem Lenkrad einzunehmen.
Wir befinden uns gerade auf der langgezogenen Inselhauptstraße auf dem Weg Richtung Inselmitte, da sehe ich im Rückspiegel wie sich ein Fahrzeug nähert. Lackierung und Aufbau auf dem Dach lassen keine Zweifel: ein Polizeiwagen. Scheiße. 'Tschuldigung – Mist. Natürlich – was wir machen, ist unverantwortlich. Dennoch. Jetzt nur keinen Ärger riskieren. Die Kinder werden instruiert. Hinlegen, Handtücher über die Köpfe ziehen, nicht bewegen. Lange zu schwitzen braucht keiner. Rechts vor uns taucht der Ofiusa auf. Ein Supermarkt. Unsere Rettung. Ich setze den Blinker, parke vor dem Laden, kurz darauf sind die Ordnungshüter an uns vorbei. Glück gehabt. Vorsichtshalber gedulden wir uns noch einen Augenblick, dann geht es weiter – immerhin mit schlechtem Gewissen.
Abermals verbringen wir ansonsten eine vergnügliche, unaufgeregte Zeit. Wie auch in den folgenden Jahren. Einmal im Urlaub leihen wir uns für einen Tag ein Auto und schauen, ob sich noch alles auf der Insel an seinem Platz befindet. In der Regel werden wir angenehm überrascht. Nach und nach verschwinden am Straßenrand entsorgte Autos, Kühlschränke und Fernseher, auch schon mal knietiefe Schlaglöcher im Asphalt, über die man im Vorjahr noch einen Bogen machen musste, gibt es mit einem Male nicht mehr und in den Orten entstehen Fußgängerzonen, wo vormals Autos fuhren.
Bei einer dieser Touren haben wir jedoch unsere Zweifel, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Die knapp fünfzig Meter Höhenunterschied zwischen dem Parkplatz am Hotel sowie der Inselhauptstraße sind gerade überwunden und wir rollen auf Es Calo zu, der Ansammlung von Häusern rund um einen kleinen Hafen, in dem Fischer ihre Boote liegen haben, da trauen wir unseren Augen nicht. Im Hafenbecken steht etwas, das dort nicht hinein gehört. Ein Kleinbus. Lediglich Scheiben und Dach ragen aus dem Wasser. In dem Fahrzeug sitzt glücklicherweise niemand. Wie wir in Erfahrung bringen, hatte man wohl die Handbremse nicht richtig angezogen, als man das Fahrzeug an der abschüssigen Rampe abstellte, über die normalerweise Boote zu Wasser gelassen beziehungsweise an Land geholt werden. Ironie des Schicksals: wir blicken auf den Transporter der Tauchschule.
Neben den motorisierten Ausflügen gehen wir dazu über, uns zunehmend aus eigener Kraft über die Insel zu bewegen. Mal radeln wir zu anderen Stränden, andere Male wird gewandert. So entdecke ich so gut wie direkt vor der Haustür einen wunderschönen Rundweg, der mir eine Frage beantwortet, die sich mir schon lange stellte: gibt es nicht auch eine Möglichkeit, entlang der Südküste auf die Mola hoch zu gelangen? Wie ich nach einem Anlauf feststelle: es gibt sie, die Möglichkeit. Ich stiefele zunächst ein Stück an der Küste entlang, vorbei am auslaufenden Strand und dem Geheimtipp von Miss Neckermann, der kleinen, versteckten Bucht, erklimme ein paar Felsen beziehungsweise steige diese wieder herab, umrunde eine weitere Bucht, in der abgestorbenes Seegras in den Wellen hin und her schwappt, und folge einem schmalen Pfad. Umgeben von knorrigem Gestrüpp entferne ich mich vom Meer, bevor ich es unmittelbar vor dem Erheben der Steilküste noch einmal vor mir habe und ich vor weiteren Bootsunterständen stehe. Alles andere als eben dann der Weg zur Hochebene hinauf. Ein ganz besonderes Vergnügen, dieser Streckenabschnitt, als ich Ute und den Kindern stolz präsentiere, auf was ich da stieß: der Nachwuchs zetert und meutert bereits nach wenigen Metern – zu anstrengend. Zur Wahrung des Familienfriedens nehme ich die Sprösslinge abwechselnd auf die Schultern. Ein Spaß ganz besonderer Güte, der den nächsten Supermarkt herbei sehnt. Abenteuerlich geradezu die Vorstellung, wie Autos diesen Weg rauf beziehungsweise runter kommen mögen. Mich jedenfalls kann der Gedanke nicht begeistern, hinter dem Lenkrad zu sitzen. Oben angekommen schlängelt sich der Weg ein wenig durch die Felder, kurz vor El Pilar taucht zur Rechten die Windmühle auf, in der einer Legende nach Bob Dylan für einige Zeit gelebt haben soll, es folgen ein paar Schritte durch den Ort, das Abschreiten eines größeren Weinfeldes, dann ist die Straße zu überqueren, das obere Ende des Römerwegs erreicht und es beginnt der Abstieg. Er führt uns vorbei an der Casa Colonia, an Höhleneingängen und an Aussichtpunkten mit diesem Blick über das Eiland bei denen man aufpassen muss, nicht mit der Insel zu verschmelzen. Findet man im Rausch der einigen hundert Meter abwärts den richtigen Abzweig, überquert man die Straße noch in den Serpentinen ein weiteres Mal, bleibt unter Bäumen, biegt ein in den Camino Es Ram, einer üblen Holperpiste, die in der gleichnamigen Bucht mit den Fischerhütten endet, in der das Seegras schwappt. Knickt man rechtzeitig in den noch übleren Weg ab, der in einen ausgetrockneten Wasserlauf übergeht und nach kurzem Anstieg wieder abfällt, nimmt schließlich den sandigen Pfad nach rechts, dann steht man plötzlich wieder dort, wo man begann, brach man sich zwischenzeitlich nicht die Haxen. Ausreichendes Potential jedenfalls bieten die etwa zwölf Kilometer. Um so erstaunter sind wir, als wir auf einer der Wanderungen auf der unebenen, felsigen Piste bergab in zügigem Tempo überholt werden. Von zwei Radfahrern. Die beiden Mountainbiker haben ihren Spaß daran, eigene Fähigkeiten sowie die Belastbarkeit ihrer Gefährte unter Beweis zu stellen.
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