Überraschend hingegen ein anderer. Wir machen uns auf den Weg mit dem Ziel, eine der beiden Diskotheken im Ort kennen zu lernen. Mit 23 kann man sich das erlauben – reden wir uns jedenfalls ein. Am Abend unseres Besuchs soll ein besonderes Event stattfinden. Es geht um nichts Geringeres als die Wahl der Miss Formentera. Was sich für uns nach großem Glück und Zufall anhört, einem derartigen Ereignis beiwohnen zu dürfen, ist wahrscheinlich eine plumpe Touri-Falle, die alle zwei Wochen zu schnappt. Oder gar allwöchentlich? Egal, wir haken vorsichtshalber nicht nach. Statt dessen bringen wir in Erfahrung, dass der Schönheitswettbewerb gegen Mitternacht startet.
Eine gute Stunde vorher sind wir da. Immerhin gilt es für Ute und Birgit die Konkurrenz abzuchecken. Rüdiger und mir wird Angst und bange. Was, wenn uns ein paar südländische Traumprinzen unsere Mädels ausspannen?
Zum Glück erweist sich unsere Sorge als unbegründet. Weniger, weil sich die beiden vor Mitbewerberinnen fürchten müssten als vielmehr, weil zur angekündigten Stunde keinerlei Anzeichen auf Vorbereitungen erkennbar wären. Es tut sich schlicht und ergreifend nichts. Kein Aufruf, wo sich Aspirantinnen zu melden hätten, kein Hinweis auf den besonderen Programmpunkt – gar nichts. Unbeeindruckt jagt ein Sommerhit den anderen. Auch innerhalb der folgenden Stunde nicht im Entferntesten eine Spur davon, was uns her lockte. Als wir schließlich das Weite suchen, wird unser Erscheinen dennoch honoriert. Eine der großen Fragen des Urlaubs findet seine Antwort: wie schafft es Victor, die Leib gewordene Seele unseres Hotels, alltäglich schlaftrunken mit kleinen Kulleräuglein aufzulaufen? Nachdem sich unsere Wege beim Verlassen des Etablissements nachts um halb zwei kreuzen haben wir nicht nur den Hauch einer Ahnung sondern wissen auch, dass seine Sehorgane leuchten können.
Gesprächsstoff liefert ebenso eine andere Begebenheit. Ein anderer Abend, mal nicht in Es Pujols. Wir sind der Ansicht, wir müssten den Besuch eines Restaurants wiederholen, in dem Prominenz anzutreffen sein könnte. Wie wir dank Miss Neckermann wissen, gar blaublütige. Entsprechend machen wir uns auf zur Salzmühle. Eine Entscheidung, die uns nicht enttäuscht.
Das Lokal zu finden ist keine große Herausforderung. Es liegt zwei Kilometer vor den Toren des touristischen Zentrums der Insel. Schon häufiger auf dem Weg zu den Stränden im Norden des Eilandes kamen wir daran vorbei. Parkplatz? Kein Drama. Roller sind außerhalb geschlossener Ortschaften anspruchslos. Sitzplatz? Wir haben Glück. Auch ohne Reservierung. Für unseren Geschmack ist es sogar großes Glück, das uns zuteil wird. Man weist uns einen Tisch mit Meerblick zu. Direkt an der Mauer, hinter der fünf Meter tiefer der Bootsanleger auf hölzernen Beinen im Meer verankert ist. Möglicherweise ein Platz, der Hochwohlgeborenen nicht zugemutet werden kann. Man kann nicht von allen Seiten aus gesehen werden, thront nicht im Mittelpunkt.
Die Speisekarten sind gerade studiert, die Bestellung aufgegeben, wir mit Getränken versorgt, da geschieht es. Wir müssen uns nicht länger mit eigenen Trivialitäten unterhalten. Zwei junge Frauen betreten die Bildfläche. Betreten? Stolzieren. Die beiden sind echte Hingucker. Beine ohne Ende, dezent wackelnder, wohl geformter Po, Oberkörper, Gesicht und Haarpracht nicht minder unattraktiv. Top Kandidatinnen einer jeden Miss-Wahl. Zählten Hochglanz Lifestyle Magazine oder die Regenbogenpresse zu unserer Lektüre, vielleicht wüssten wir sogar, wer da auf High-Heels vorbei schwebt. Bis sich die Schönheiten setzen, kleben alle Augen an ihnen. Wie wir nehmen die beiden an einem Tisch platz, der für vier Gäste eingedeckt ist. Fehlen also potentiell noch zwei. Gut, sonderbar, wäre es anders. Es dauert nicht lange, dann lernen wir auch die männlichen Begleiter kennen. Fast hautnah. Erst eine Hand, dann die andere sowie ein zweites Paar, die Finger uns entgegen gerichtet. Sie greifen über die kantigen Steine der vor uns befindlichen Mauer. Bevor wir in die Ray Bans der zugehörigen Köpfe blicken, funkelt uns eine Rolex an. Nach verdutzten Blicken unsererseits ziehen sich auch Körper und Beine über die Gebäudewand. Die Macker der Grazien. Wäre doch bei den Mädels auch gelacht, wenn man den Weg nimmt, den jeder geht. Der Reaktion anderer Gäste nach jedoch weder der König des Landes sowie ein Adlatus. Weder erhebt sich jemand noch wird applaudiert. Lediglich der Chronograph lässt auf eine gewisse Stellung in der Gesellschaft schließen. Letztendlich schütteln wir standesgemäß den Kopf. Wahrscheinlich nicht unbeabsichtigt.
Auch wenn wir das Gefühl haben, auf Formentera ticken die Uhren langsamer, die Zeit verfliegt. Zweieinhalb Wochen nach unserer Ankunft lesen wir unsere Namen auf der Abreiseliste. Die unsägliche Seite in dem gefürchteten Ordner unseres Hostals, den wir laut Miss Neckermann nicht aus den Augen verlieren sollten. Dem Blatt entnehmen wir, wann wir uns mit gepackten Koffern vor der Tür unserer Herberge einzufinden haben, wollen wir uns auch den bis dahin verdrängten Teil der gebuchten Pauschalreise nicht entgehen lassen.
Der Vergänglichkeit des Vergnügens bewusst kosten wir die Dinge aus, die bis dahin einem unbekümmerten Alltag zum Opfer fielen. Wir legen einen Nachmittag am Pool ein. Eine blöde Idee. Dösen, lesen, abkühlen – ohne Sand zwischen den Zehen, ohne salziges Wasser, ohne Sicht auf den Horizont. Kann das der Sinn des betreuten Urlaubens sein? Nach einer Weile beschließen wir: nein – es muss etwas geschehen. Wir siedeln um. Von den Sonnenliegen geht es rüber zum Tresen. Der nächste Fehler. Sommer, Sonne, Meer – was wäre ein Urlaub in Spanien ohne Sangria. Das Glas zur Begrüßung kann nicht alles gewesen sein. Was folgt, dauert nicht lange. Vier Mann, vier trockene Kehlen – eine Karaffe ist schnell geleert. Schmeckt lecker. Geht runter wie nichts, das fruchtig süße Gebräu. Victor hat den Dreh der Mischung raus. Ob er sich für das Trinkgeld erkenntlich zeigen will, er einfach nur seine Ruhe haben möchte oder die Gelegenheit sieht, im Regal mit den Flaschen aufzuräumen – der nachbestellte zweite Liter ist von anderem Kaliber. Bei der Zubereitung schauen wir unserem Universaltalent ein wenig auf die Finger. Vielleicht auch nicht das Schlaueste. Aus diversen Flaschen Hochprozentigem wandern Anteile in das bauchige Tafelgefäß. Nachdem es geleert ist, haben wir die Lampe an – noch weit vor Anbruch der Dämmerung. Es Pujols an dem Abend fällt aus.
Der Ort ist statt dessen die Anlaufstelle unseres letzten Morgens. Wir wollen einmal woanders frühstücken, vielleicht gar einen sanften Übergang zur heimischen ersten Mahlzeit des Tages herbeiführen. Drei Wochen lang trockenes Weißbrot, Schlabberwasser, das uns zwar unter dem Namen Kaffee angeboten wird, dem geschmacklich aber nur mit viel Fantasie nahe kommt, sowie jeden Tag aufs Neue Marmelade in Portionspäckchen mit zwei Monate zurück liegendem Mindesthaltbarkeitsdatum? Wir schieben es auf den einen Stern, mit dem unsere Herberge im Reisekatalog beworben wird. Mehr war für unsere Verhältnisse nicht drin und irgendwo müssen die Relationen gewahrt bleiben. Sicher, Victor hätte das Stangenbrot Morgens aufschneiden können anstatt als letzte Amtshandlung vor Feierabend, doch wer weiß, wie es dann ausgesehen hätte. Das Frühstücksei, dessen Dotter fest, das Eiweiß aber glibberig blieb? Ein Geheimnis, das besser nicht gelüftet wird. Nein, am letzten Morgen, da soll wenigstens der Gaumen seine Freude haben. Das Café unserer Wahl wird das Sa Volta. In der Kurve im Ort gelegen der Platz, an dem das Leben pulsiert. Quasi das Pendant zur Bar Verdera, die Bar des Verderbens in San Fernando, nur halt nicht in der Inselmitte, an der zentralen Kreuzung, sondern im Mittelpunkt des touristischen Treibens.
Der Tisch, den wir erwischen, ist perfekt. Sehen und gesehen werden. Aus Korbstühlen mit Armlehnen schauen wir, wer vorbei flaniert: die früh aufgestandenen Badegäste mit Luftmatratze, Schnorchel und Strandlaken unter dem Arm, die Shopping-Queens und -Kings auf der Suche nach dem Schnäppchen des Tages, die Geschäftsleute, die vom urlaubenden Volk leben. Ein buntes Auf und Ab und Hin und Her. Das Frühstück? Der Hammer! Der Kaffee könnte tatsächlich einer gemahlenen und aufgebrühten Bohne entstammen. Der Saft? Orange, ein wenig wässerig, doch mit Fruchtstückchen. Croissant und Honig – nun ja, lässt sich nicht viel dran falsch machen. Das Brot? Zwei Scheiben. Quadratisch, hell, getoastet. Ei? Unauffällig, wie auch die Scheibe Schinken und Käse. Butter, Marmelade? Ein wenig enttäuschend. Wie in unserem Hotel. Abgepackt. In Kunststoffschälchen mit Metallfolie. Das Besondere jedoch: das Mindesthaltbarkeitsdatum des fruchtigen Brotaufstrichs. Es unterscheidet sich von dem in unserem Lago Dorado. Wie ein irritierter Blick zeigt: es liegt noch weiter zurück in der Vergangenheit. Vielleicht die Folge, dass Formentera eine Insel ist. Abgeschieden vom Festland. Nur vom Nachbareiland auf dem Seewege erreichbar. Da können Wege lang werden.
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