Dem Essen folgt ein paar hundert Meter weiter die Einführung in landesübliche Rituale: es ist Zeit für die Siesta – die Mittagsruhe. Es sei keine Schande, sie schlafend oder dösend zu verbringen. Die Gepflogenheit bedarf kaum weiterer Worte. Wir zelebrieren sie am Strand. Handtuch auspacken, Klamotten vom Leibe, alle Viere von sich strecken, Augen schließen – herrlich. Wir mögen lediglich mit der Sonne aufpassen. Sowohl das ständig laue Lüftchen als auch Bewölkung seien trügerisch. Man fange sich schnell einen Sonnenbrand ein. Für manch einen kommt der letzte Hinweis zu spät. Es dauert nicht lange, dann ist man eingenickt, weilt im Reich der Träume.
Nachdem auch das Nachmittagsprogramm absolviert ist, sind wir vollumfänglich informiert. Wir sind eingeweiht in die Grundlagen von Ackerbau, Viehzucht und Fischfang, wir tauchten ab in die Geschichte, wissen am Ende des Tages, dass bereits die Römer Formentera für sich entdeckten, sich die Salzgewinnung in den Salinen nicht mehr lohnt, warum man einst Maurentürme und Wehrkirchen errichtete, wie es dazu kam, dass in der Crimson Höhle oben in der Steilküste der Hochebene La Mola ein Schaufelbagger vor sich hin rostet, wo wir einen Arzt finden, wo Boutiquen und wo Diskotheken, das Es Pujols das touristische Zentrum der Insel ist, in San Francisco die Verwaltung sitzt, das in El Pilar einmal wöchentlich ein Hippiemarkt stattfindet und es auf dem gesamten Eiland nur eine Tankstelle gibt. Selbst der Besuch eines Friedhofs kommt nicht zu kurz. Strände? Kein Thema mehr. Wir klappern sie ab. Alle. Die lang gezogenen Illetas und Llevante im Norden, den Migjorn im Süden wie auch einige der kleinen malerischen Buchten dazwischen. Als absoluten Geheimtipp verkauft uns Miss Neckermann Caló d´es Mort. Dort, wo der Migjorn ausläuft und sich die Mola langsam erhebt, zwischen den Felsen, zimmerten sich, wie andernorts auch, Fischer eine Hand voll Unterstände für ihre Boote. Das Besondere hier: Man hangelt sich entlang eines in der Wand befestigten Kabels und über in den Stein gehauene Stiegen hinunter, dann breitet sich zur Rechten ein schmaler Sandstreifen aus, ausreichend groß für Frau und Kinder derer, die hinaus aufs Wasser ziehen. An mancher Stelle bleibt zwischen Felswand und Wasserkante gerade so viel Platz, dass ein ausgebreitetes Handtuch nicht nass wird. Wer in den Vormittagsstunden kommt und Glück hat, erhascht sogar noch eine Zeit lang etwas von dem Schatten, den die steilen Wände werfen. Irgend jemand aus unserer Gruppe konnte die Empfehlung dem Anschein nach allerdings nicht für sich behalten. Jahre später liegt in der kleinen Bucht ein Badelaken neben dem anderen.
Unterwasserwelt mit Nebenwirkungen
Hochmotiviert steigen wir am Morgen nach unserer Jeep-Safari auf die Räder. Zu wissen wie es aussieht, wohin wir starten, verleiht Flügel. Jedenfalls beim Aufbruch. Unser Ziel: die Cala Saona, eine andere Bucht in der Nähe unserer Herberge. Wir entscheiden uns für den etwas längeren Weg. Ein kürzerer verläuft parallel zur Küste, führt über Holperpisten und hat einige Kreuzungen. Der längere führt über die Inselhauptstadt, fünf Kilometer über Asphalt und ist quasi nicht zu verfehlen. Zweimal rechts abbiegen, der Beschilderung folgen und schon ist es geschafft. Schon? Nun ja, wären da nicht die beiden Hügel. Der erste, langgestreckt, vor San Francisco, der zweite dahinter. Weniger hoch, dafür aber deutlich weniger langgestreckt. Man könnte auch sagen steiler. Zwei Spaßbremsen. Die Begeisterung bei meinen Mitstreitern für das Verkehrsmittel schwindet. Für mich unverständlich, letztendlich aber gleichgültig – Jahre später sollen wir noch ganz andere Strecken aus eigener Kraft bewältigen.
Schnell vergessen sind die Anstrengungen, als wir vom Parkplatz aus unter Bäumen auf die Bucht schauen. Ein Anblick, der uns immer wieder einen Schauer über den Rücken jagt. Der breite Sandstrand, die roten Klippen, das glitzernde Meer, im Hintergrund Es Vedra, die mystische Felseninsel im Westen Ibizas – Idylle pur.
Wenig später tummeln wir uns in den Fluten. Ebenfalls ein Traum. Im Wasser lässt es sich stundenlang aushalten. Genau das, was wir tun. Leider nicht ganz folgenlos. Einstweilen aber genießen wir. Erst planschend und schwimmend, dann schnorchelnd. Am Fuße der steil abfallenden Felsen eine Welt für sich: an den Steinen kleben Seeigel, irgendwo huschen Krebse umher, manches mal tauche ich ein in einen Fischschwarm. Wie lange ich mit dem Kopf unter Wasser dümpele? Ziemlich lange. Gefühlt eine kleine Unendlichkeit, gemessen wahrscheinlich eine knappe Stunde.
In der Sonne liegend anschließend das Gefühl, Karussell zu fahren. Eine Nachwirkung der sanften Wogen zuvor. Harmlos. Deutlich unangenehmer wird es tags drauf. Zunächst habe ich ein gelegentliches Ziehen in den Ohren, rasch entwickelt es sich zu einem beißenden Schmerz. Als ich beim Essen kaum noch den Mund auf bekomme, kraftvolles Kauen zur Tortur wird und ich bei unscheinbarsten Kieferbewegungen das Gesicht verzerre, glaube ich nicht mehr länger daran, dass von alleine geht, was von alleine kam. Ich besinne mich des Hinweises von Miss Neckermann, wo ein Arzt zu finden ist. Für Doktor Luis ist der Fall klar. Kommt vom Schwimmen oder Tauchen. Bakterien im Wasser siedelten um in den Gehörgang, entzündeten sich und peinigen mich. Sein Rat: fortan mit dem Kopf nicht mehr in die Fluten eintauchen und dreimal täglich die Tabletten schlucken, die er mir verordnet, bis die Packung leer ist. Verfehlen tun die Penicillinbomben ihre Wirkung nicht. Bereits am nächsten Tag brauche ich nicht mehr in der Speisekarte danach zu schielen, was mich beim Kauen zusammen zucken lassen könnte.
Eine Fahrt zum Arenals Strand der Insel entwickelt sich zwar nicht zur Zerreißprobe unserer Freundschaft, offenbart aber grundsätzlich unterschiedliche Geschmäcker. Ich bin begeistert. Die gut zehn Kilometer entsprechen in etwa meiner Strecke zur Schule. Anstatt jedoch vom morgendlichen beziehungsweise nachmittäglichem Berufsverkehr entlang der B1 in Dortmund in Abgase gehüllt zu werden, weht uns auf Formentera frische Luft um die Nase. Herrlich, der Fahrtwind bei dünnen Klamotten auf der Haut. Zudem das Flimmern über dem Asphalt in der lang gezogenen Ebene, nachdem der zweite Hubbel in der Landschaft überwunden ist, das Meer zur Rechten wie zur Linken nur ein paar hundert Meter weit auseinander – toll. Leider sehen Ute sowie Rüdiger und Birgit die Sache anders. Man schwitzt, man lechzt nach Wasser, man sehnt die Ankunft herbei. Der Strand ist klasse, da sind wir uns einig, in den Wellen zu toben ein Vergnügen, die Kurbelei dorthin jedoch – grenzwertig. Ganz zu schweigen davon, dass die Strecke irgendwann schließlich auch in umgekehrter Richtung zurückzulegen ist oder es ganz nett wäre, auch Abends „mal eben schnell“ noch irgendwo hin zu fahren, ohne ein weiteres Mal in die Pedale treten zu müssen.
Es dauert nicht lange, da darf ich mich einem Mehrheitsentschluss beugen. Drei zu eins – klare Sache. Eine Entscheidung, über die ich Jahre später die Augen verdrehen, die Nase rümpfen und den Kopf schütteln soll. Einstweilen jedoch wird nach einer Woche umgesattelt: Viktor erhält seine vier Räder zurück, Miss Neckermann die Order, zwei Motorroller zu arrangieren. Kaum sind die in Empfang genommen, wird Formentera kleiner. Die Strecke zum Strand, an dem auf einem kleinen Hügel eine Piratenflagge weht, ist in Nullkommanichts zurück gelegt. Brandet es dort zu sehr oder verderben Quallen den Badespaß, wird kurzerhand umdisponiert. Kostet ja kaum etwas. Ein paar Minuten Knattern, eine Portion Fahrtwind, eine Tasse voll Sprit und schon ist das andere Ende der Insel erreicht. Fortan alles kein Hexenwerk mehr. Ebenso Abends. Ein wenig auf der Promenade flanieren in Es Pujols, in Boutiquen stöbern, in ein Restaurant setzen? Kein Thema. Rauf auf die Feuerstühle und ab geht die Post. Was mich dennoch und nicht nur im Nachhinein stört? Es gibt nichts umsonst. Alles hat seinen Preis. Nicht nur den monetären. Der ist leicht zu beziffern. Die Roller zu mieten kostet uns etwa doppelt so viel wie die Drahtesel. Hinzu kommen die Peseten für das Tanken. Nicht die Welt, aber immerhin und zugleich die Brücke zu den nicht quantifizierbaren Kosten.
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