Ebenso nur selten Aufspringen lässt uns unser laufender Meter. Ein kleines Mäuerchen vor der Terrasse beziehungsweise ein Treppenabsatz im Zugang verhindert ein all zu voreiliges Flüchten, im Speisesaal rückt man uns unversehens einen Kinderstuhl an den Tisch, die Kellner kümmern sich rührend um den Kleinen, treiben ihre Späße mit ihm und nach dem Essen sorgt das Unterhaltungsprogramm des Hotels dafür, dass die Sprösslinge wenig später ins Bett fallen: Allabendlich veranstaltet man eine Kinderdisco. Die Musik ist immer die gleiche, zwei oder drei Animateure studieren mit den Kids eine Choreografie ein, der Nachwuchs darf im Takt noch einmal alles geben, anschließend haben die jungen Eltern Feierabend.
Zu langweilen braucht sich auch tagsüber niemand um den Pool herum. Gymnastik, Wasserball, Strandvolleyball, Bogenschießen, Pfeilewerfen, Kegeln und dergleichen mehr – irgend etwas steht immer auf dem Veranstaltungskalender. Das Schöne daran: niemand wird zu seinem Glück gezwungen. Ein einfaches Nein wird akzeptiert und schon wird der Nächste gefragt ob er Lust hat mitzumachen. Mindestens genau so gut: es stehen Alternativen zur Auswahl, die man unabhängig von Zeitplänen und alleine ausüben kann. Bevorzugt Ute Aktivitäten in der Gruppe, schnappe ich mir hin und wieder eines der Mountainbikes oder Kajaks und genieße die Zeit ohne jemanden um mich herum. Auch nicht schlecht.
Abermals vergeht die Zeit wie im Flug. Action? Zum Glück keine, zählt man nicht gerade das Füttern von Eidechsen mit Kekskrümeln zu waghalsigeren Abenteuern. Wir lernen die Insel aus einer leicht anderen Perspektive kennen – häufig genug aus dem Blickwinkel eines Kleinkindes und umgeben von Förmchen, Schüppchen und Sandburgen.
1996 – Formentera für immer
Nach weiteren zwei Jahren Formentera Abstinenz dann 1996 für uns der Einstieg in ein neues Zeitalter: Wir rücken jährlich an. Und zu viert. Mehr oder weniger neun Monate nach der letzten Rückkehr von der Insel erblickt unser zweiter Sohn das Licht der Welt. Tim. Möglicherweise „made in La Mola“.
Als er anderthalb ist wird einstweilen zum letzten Mal experimentiert. Wir wollen noch einmal Neuland für uns entdecken, doch der letzte Urlaub auf Formentera setzte Maßstäbe. Hohe. Wieder sollten es drei Wochen werden, wieder wollten wir fliegen, wieder sollte der Flug nicht deutlich länger dauern als zwei Stunden, wieder sollte es ans Meer gehen, ein Strand nicht all zu weit entfernt sein, die Unterkunft nicht weniger als drei Sterne haben sowie einen Bungalow für uns bereit halten. Am besten so etwas wie die kleine Pityuseninsel, nur woanders, gerne aber in Spanien, wussten wir mittlerweile immerhin, dass „Agua con gas“ sprudelndes Wasser bezeichnet und kein Missverständnis ist, wie wir die Darreichung bevorzugen. Glas/Gas – wer hört da auf Anhieb schon die Spitzfindigkeiten heraus.
Bahnbrechend unsere Entscheidung 1995. Unsere Wahl fiel auf die große Schwester im Archipel. Auf die Insel, die wir bis dahin lediglich als Transitstrecke nach Formentera kennen lernten. Wir landeten auf Ibiza und blieben dort. Überlegte Ute erst ob wir die letzte Woche nicht auf dem lieb gewonnenen Eiland ausklingen lassen sollten, so kam für mich ein Kofferpacken mittendrin nicht in Frage. Das Ergebnis: ein kleines Desaster. Dass es im späten August fast eine Woche lang regnete? Sah zwanzig Kilometer weiter südlich wahrscheinlich auch nicht anders aus. Dass wir miterlebten wie jemand leblos aus den Fluten gezogen wurde? Kommt bedauerlicherweise auf Formentera gleichfalls immer wieder mal vor. Dass man uns am Strand beklaute? Wahrscheinlich ebenfalls auf unserer Trauminsel nicht auszuschließen, bis dato jedoch sind uns derartige Geschichten fremd. Dass der Diebstahl ausgerechnet dort stattfand, wo es uns bis dahin am besten gefiel? Ironie des Schicksals. Wir waren mit dem Auto etwa eine Stunde unterwegs und äußerst überrascht, ausgerechnet am Rande der Dünen am überlaufenen Salinas Strand einen Platz im Schatten einer Pinie zu finden. Merkwürdig dann, als wir zu viert badeten, ein kleines Mädchen allein zwischen den Bäumen. Abwechselnd warf es einen Blick auf unsere Sachen und wieder zurück über die Schulter auf den Parkplatz. Als warte es auf die Eltern, die sehr lange damit beschäftigt sind, Hab und Gut aus dem Kofferraum zu verfrachten. Ohne, dass jemand weiteres zu sehen war, schritt sie plötzlich zu dem Flecken, an dem wir uns nieder gelassen hatten, griff zum Rucksack mit unseren Habseligkeiten und machte sich damit von dannen. Der Moment, in dem ich einen verwirrten Rest der Familie zurück ließ, aus den Fluten stürmte sowie um diverse Strandtücher herum und dem Kind hinterher. Hinter den Sandhügeln auf dem Weg schließlich fand ich unsere Tasche – erleichtert um das Portemonnaie mit Geld und Papieren. Auto- und Apartmentschlüssel fehlten hingegen zum Glück nicht. Zwar wurde ich der kleinen Diebin sowie ihrer Mutter nebst Kleinkind auf dem Arm habhaft, die Geldbörse blieb jedoch für mich unauffindbar und auch die konsultierte Polizei konnte nichts weiter für mich tun als eine Anzeige entgegen zu nehmen.
Einschneidender jedoch eine andere Feststellung: auf Formentera lebt es sich entspannter. Es gibt keine weiten Wege, so gut wie jeder Zipfel der Insel ist für uns aus eigener Kraft erreichbar, wir brauchen weder zwingend ein Auto noch sitzen wir lange darin, greifen wir doch auf eines zurück, und ein schöner Strand ist nahezu direkt vor der Haustür. Logische Konsequenz: wozu lange Prospekte wälzen wenn man weiß, wohin man will. Rümpften wir bis dahin die Nase über diejenigen, die alljährlich Fehmarn, Juist, den Wolfgangsee oder was auch immer zum Ziel der schönsten Wochen des Jahres machten – mit einem Male verstehen wir sie und sind selbst nicht besser.
Begünstigt wird der Entschluss einstweilen durch ein Angebot, das uns entgegen kommt. Im La Mola Hotel können wir Ende Mai/Anfang Juni drei Wochen unterkommen, zahlen aber lediglich den Katalogpreis für vierzehn Tage. Der Zeitraum ist noch nicht so gefragt. Für uns optimal. Wir „sparen“ Geld, ebenso Jahresurlaub, je nachdem wie Himmelfahrt, Fronleichnam oder Pfingsten fallen, und meist meint es das Wetter gut mit uns. In der Regel ist es sonnig und angenehm warm, noch nicht zu heiß, das Meer aber bereits einladend. Hinzu kommt: Ute kann entspannt altern. In dem Zeitfenster, in dem wir unsere Ferien verbringen, liegt ihr Geburtstag. Einerseits schön, andererseits hat die Sache einen Wermutstropfen. Ute nimmt das Ereignis gerne zum Anlass, im Kreise von Freundinnen und Freunden zu feiern. Erfolgt die Einladung - „Ihr seid herzlich willkommen – Ihr müsstet lediglich nach Formentera kommen“ - eher in dem Bewusstsein, dass außer Ehemann und Kindern kein vertrautes Gesicht am Tisch sitzen wird, so ist die Freude groß, als es plötzlich und unerwartet anders kommt.
An ihrem Ehrentag leuchten schon beim Abendessen die Augen. Nachdem der Hauptgang verputzt ist, rückt eine dreiköpfige Delegation des Hauses an. Angeführt vom Maître wird eine kleine Geburtstagstorte serviert. Während eine darauf gesteckte Wunderkerze Funken sprüht, schmettert man ein Ständchen. Cumpleaños feliz, happy birthday to you. Der halbe Saal stimmt ein, zum Abschluss Applaus. Aufgrund der Meldepflicht sind dem Hotel diverse Daten seiner Gäste bekannt. Oder hatte ich mich verplappert? Unerheblich. Ute ist gerührt.
Nachdem der Kuchen verspeist ist, der übliche Gang zur Kinderdisco. Während die Kinder zu „Veo veo, que ves“ und Konsorten herum hüpfen und Ute und ich zur Feier des Tages vor einem Glas Sekt sitzen, öffnet sich die Tür. Herein schreiten keine Unbekannten. Rüdiger und Birgit mit Daniel und Marvin im Schlepptau. Der Nachwuchs ist in etwa eine Altersklasse. Unsere Kinder trennen keine vier Jahre. Die Überraschung ist perfekt, der Abend wird lang – trotz der Strapazen, die unsere Freunde für den Spaß auf sich nahmen und von denen wir nach und nach erfahren. So kommen sie mehr oder minder direkt von der Fähre, warfen schnell ihre Koffer in das nur unweit entfernt gelegene Ferienhaus, machten sich kurz frisch und rollten die Serpentinen wieder hinab in dem kleinen, roten Italiener, der am Hafen für sie mit Schlüsseln unter der Sonnenblende abgestellt bereit stand – ein Fiat Bambino. Er zählt quasi zum Inventar des Ferienhauses, ist von diesem kaum weg zu denken und soll uns auch in den folgenden Tagen noch eine Anekdote bescheren.
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