„Nein, drüber nicht. Aber warte ab. Es gibt einen Weg.“ Jetzt krochen sie auf allen Vieren durch das Gras und Iska wurde schmerzvoll an ihre zerschundenen Knie erinnert. Plötzlich tauchten die Pfähle vor ihnen in der Dunkelheit auf. Prüfend legte Sigmar eine Hand an den ein oder anderen Pfahl und drückte sanft dagegen. „Warte hier, Iska.“ Dann kroch er mal nach rechts, mal nach links und prüfte die Pfähle. Letztlich kam er zu Iska zurück. „Gib mir mal deine Hand.“ Iska tat wie ihr geheißen, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, was Sigmar von ihr wollte. Vorsichtig führte er die Hand über das spröde Holz eines Pfahles. „Fühlst du das?“
„Eine Kerbe?“
„Ja, es handelt sich um ein Zeichen, wo genau bestimmte Pfähle zu finden sind. Folge mir leise und bleib am Boden, es ist nicht weit.“
Sigmar folgte der Pfahlwand in linker Richtung. „Hier. Schau.“ Eingehend beobachtete er noch einmal die Umgegend. Dann zog der junge Krieger mühelos einen Pfahl nach dem anderen aus dem Boden. So entstand in kürzester Zeit eine Lücke in der Wand, durch die sie sich hindurch quetschen konnten. Auf der anderen Seite des Walls beobachtete Sigmar wieder die Gegend und lauschte angestrengt. Zufrieden stellte er die Pfähle wieder an ihren ursprünglichen Platz. „Drüber kommen wir nicht, aber hindurch! Wenn die Römer wüssten, wie durchlässig ihr Schutzwall ist ...“ Sigmar ließ den Satz unbeendet und zog Iska langsam weiter. „Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Fluss.“
Sie überquerten eine breite Straße, die Iska in Staunen versetzte. Massiver Stein bildete den Untergrund und die Straße war so eben und gleichmäßig, wie Iska selten einen Weg gesehen hatte. Am Rand des breiten Weges standen Steine, senkrecht aufgestellt und sie sah Sigmar fragend an: „Sind das dort Gedenksteine für die Toten?“
Der junge Krieger schüttelte den Kopf. „Nein, das sind Steine, die Entfernungen angeben. Bis zur nächsten Stadt oder bis zu einer Weggabelung. Die Römer nennen sie Meilensteine.“ Sigmar zog sie von der Straße fort. Ein längerer Aufenthalt hier war auf keinen Fall ratsam. Dafür kamen zu häufig Menschen oder sogar Fuhrwerke über die Straße. Wie würden Iska wohl erst die Augen übergehen, wenn sie einmal eine der römischen Städte zu Gesicht bekäme?
Schneller als erwartet erreichten sie das Flussufer. Aber es war kaum noch notwendig gewesen, sich geduckt oder kriechend zu bewegen. Der junge Krieger beobachtete zwar weiter ständig die Umgegend, aber er legte hier lange nicht die Vorsicht an den Tag, wie zuvor auf der anderen Seite des Walls. Iska hörte plötzlich Worte und Geräusche, die auf Fuhrwerke und Menschen auf der zuvor überquerten Straße schließen ließen. Doch je mehr sie sich dem Fluss näherten, umso leiser wurde es wieder. „Selbst des Nachts sind die Straßen der Römer gerne genutzte Wege“, erklärte Sigmar. „Sie sind sicherer als die kleinen Wege, da überall römische Patrouillen sind.“ Dann suchte er etwas zwischen den einzelnen Büschen am Flussufer. Nach einer Weile schien er gefunden zu haben, wonach er suchte, denn leise rief er Iska zu sich: „Iska, komm hierhin. Aber sei leise!“
Iska staunte nicht schlecht, als sie unter dem Busch versteckt ein kleines Boot entdeckte. „Ich habe Angst, Sigmar. Ich kann doch nicht schwimmen!“
„Wir haben keine Wahl. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück! Das Boot ist sicher, glaube mir und die Strömung an dieser Stelle nicht allzu stark. Dafür ist der Fluss hier breiter und es wird ein gutes Stück Arbeit werden, ihn zu überqueren. Trotzdem brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Iska schaute unsicher über das in der Dunkelheit schwarz vor ihnen liegende, träge fließende Wasser. Dann zeigte sie mit dem Arm auf eine Stelle im Fluss. „Was ist das?“
Sigmar folgte mit dem Blick ihrem Arm. Auf dem Fluss tanzten plötzlich einzelne Lichter. Die Entfernung war zu groß, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber der Krieger wusste sofort, worum es sich handelte. „Das sind Boote, die den Rhenus herauf- oder herunterfahren.“ Er hoffte, dass Iska mit seiner Antwort zufrieden sein würde. Aber da täuschte er sich in seiner Begleiterin.
„Nachts? Was machen die Boote in der Dunkelheit dort? Erzähl mir nicht, dass jetzt Waren transportiert werden! Bei der Dunkelheit.“
Sigmar sah sich in seiner Hoffnung, sie mit der kurzen Erklärung zufrieden zu stellen, getrogen. Trotzdem bewunderte er Iskas wachen Verstand. Trotz dieser gefährlichen Situation war sie immer noch in der Lage, klar zu denken. Iska verfügte zwar nicht über allzuviel Wissen, aber mit Dummheit war sie, bei den Göttern, gewiss nicht geschlagen.
Mit einem Seufzen beschloss er, ihr die Wahrheit, oder zumindest einen Teil davon, zu erzählen: „Nein, das sind keine Transportboote. Das sind Wachen, die auf dem Rhenus hin- und herfahren. Meistens sind die Boote mit zwei bis drei Bogenschützen besetzt. Aber“, Sigmar machte eine kleine Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „wenn wir darauf achten, ihnen nicht zu nahe zu kommen und uns leise verhalten, dann besteht kaum die Möglichkeit, dass sie uns entdecken.“
Hoffentlich würde Iska das jetzt glauben. Er musste selbst schon oft genug erleben, wie gute Leute durch die Pfeile der Bogenschützen mitten auf dem Rhenus ihr Leben ließen. Einmal konnte er sich selbst auch nur durch den Sprung in das kalte Wasser des Flusses retten. Aber das brauchte das junge Mädchen jetzt nicht zu erfahren. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal schwimmen konnte.
„Iska. Mach dir keine Gedanken. Wir haben sowieso keine Wahl. Bleiben wir hier, ist das unser sicherer Tod. Sieh, die Boote sind gleich vorüber. Sollten die Römer keine Änderungen in den Zeiten, wann die Boote auf und ab fahren, vorgenommen haben, so sind wir längst weit über die Mitte des Flusses hinaus, bevor ein neues Wachboot hier ist. Komm, hilf mir mal.“
Leise drehten sie das Boot herum und schleiften es zum Fluss herunter. Dort ging Sigmar noch einmal die paar Schritte zu den Büschen zurück und kam mit zwei Rudern wieder, die er ins Boot legte. Gemeinsam schoben sie es ins Wasser und Iska stieg vorsichtig in das schwankende Gefährt. Ihr wurde fast schlecht vor Angst. Beinah wäre sie wieder aus der Nussschale herausgesprungen, doch diesen Impuls unterdrückte sie. Sigmar gab dem Boot einen Stoß und schwang sich hinein. Erneut schwankte es bedenklich und Iska klammerte sich ängstlich an der Bordwand fest. Würden sie jetzt umkippen? Doch nichts geschah. Sigmar nahm die beiden Ruder und begann das Gefährt leise aber zielstrebig über den Fluss zu bewegen. Dabei achtete er sorgfältig darauf, möglichst kein Geräusch beim Eintauchen der Ruder in das Wasser, zu machen.
Iska hielt den Atem an. Dies war eine neue Erfahrung für sie und bei dem Gedanken an das viele Wasser unter der dünnen Holzwand überkam sie ein Schaudern und sie spürte, wie ihre Härchen am Körper sich aufrichteten. Angst wollte sie übermannen und mit fest geschlossenen Augen lauschte sie dem leisen, gleichmäßigen Plätschern, das die Ruder im Wasser verursachten. Beide sprachen sie jetzt kein Wort. Iska vor Angst und Sigmar, da er sich ganz auf das Manövrieren konzentrierte. Immer wieder suchte er mit den Augen die Wasseroberfläche nach Wachbooten ab. Aber nur in weiter Ferne schimmerten einzelne Lichter. Mit kräftigen Ruderschlägen trieb Sigmar das Boot zügig voran. Er querte den Fluss nicht zum ersten Mal und um von der Strömung nicht abgetrieben zu werden, hielt er ständig leicht dagegen. Die Wolken gaben den Mond zögerlich wieder frei und das fahle Licht spiegelte sich in den feinen Wellen. Hin und wieder rumpelte etwas gegen den Bootsrumpf. Iska zuckte jedes Mal angstvoll zusammen. Aber Sigmar konnte sie beruhigen, es handelte sich lediglich um Unrat, der im Wasser herumschwamm. Mehr Sorgen bereitete ihm der schwache Schein des Mondes, den natürlich auch die Römer zu nutzen wussten. Doch noch schienen die Wachboote in einem ausreichenden Abstand.
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