1 ...6 7 8 10 11 12 ...30 Er schüttelte den Kopf und trank den letzten Schluck seines inzwischen kalt gewordenen Kaffees, schob den Stuhl zurück, schlüpfte in seine Jacke und wickelte sich den Schal um den Hals. In der Tür nickte er seinem Freund Matthias, dem die Bäckerei mit kleiner Caféecke gehörte, zum Abschied zu.
Vor der Tür blieb er stehen. Er könnte ja noch einmal beim Baum vorbeischauen. An der Kastanie, die auf dem Hof der Bäckerei stand, hing ein Briefkasten, den er mit Matthias zusammen angebracht hatte. Matthias hatte die Idee gehabt, als #NachrichtamBaum immer beliebter geworden war. Seitdem waren viele Zettel mit Fragen, Anregungen, Nöten, aber auch guten Zusprüchen in dem Kasten gelandet, der für jedermann zugänglich war, zum Einwerfen aber auch zum Beantworten. Völlig fremde Menschen sprachen sich Mut zu, fanden einen Ansprechpartner oder hatten einfach nur das Gefühl, dass ihre Sorgen Gehör fanden. Es war aber keineswegs so, dass nur traurige Botschaften geteilt wurden. Dominik lächelte, als er an den Bericht eines Vaters dachte, der von der Freude seines kleinen Kindes berichtete, als dieses zum ersten Mal Schnee gesehen hatte. Kein Thema, das noch nicht vorgekommen wäre. Hier in dem Kasten ihrer kleinen Stadt, aber auch weiterhin online unter #NachrichtamBaum . Sein Hashtag hatte sich zum Austausch der eigenen Gedanken entwickelt.
Dominik griff nach dem Schloss und zuckte zurück. Das Metall war ja noch kälter als beim letzten Mal. Und bewegen ließ sich der Verschluss auch nicht. Seufzend hauchte er dagegen, probierte, hauchte weiter. Wie oft hatte er früher, als er noch regelmäßig Fahrrad gefahren war, sein Schloss genauso behandeln müssen, damit sich der Schlüssel wieder ins Schloss stecken ließ? Und hier war noch nicht einmal ein Schlüssel notwendig. Schließlich sollte es die Möglichkeit des Austausches für alle geben. Matthias hatte wegen der Romantik ein altes Kofferschloss daran befestigt.
„Ist doch schöner als nur ein Haken, damit die Tür nicht vom Wind aufgeht“, hatte er gesagt. Jetzt ging sie gar nicht auf. Auch nicht besonders romantisch. Zum Glück gab es wenigstens den Briefschlitz oben, wie bei einem normalen Briefkasten.
Dominik hauchte weiter. Endlich sprang das Schloss auf. Er öffnete die Tür und zog einen Haufen heraus: Karten, zusammengefaltete Zettel und einen gelben Briefumschlag. Dominik sah darauf und sog die Luft ein. Das war die Schrift. Die Schrift der ersten Karte. Für Dominik - #NachrichtamBaum stand darauf.
Würde er endlich Antworten bekommen? Er stieß die Luft aus und wog den Brief in der Hand. Er fühlte sich schwer an. Würde er endlich erfahren, wer der Absender der Karten war?
Er hatte sich immer eine Frau vorgestellt, die mit großen traurigen Augen an einem Schreibtisch am Fenster saß, allein in einer Dachwohnung vielleicht. Der beim Schreiben immer wieder eine Haarsträhne ins Gesicht fiel, die sie sich zurückstrich, um dann bewusst und langsam weiterzuschreiben.
Dieser Kontrast aus verzweifelten Fragen und der unglaublich ordentlichen Schrift hatte ihn seit Beginn fasziniert. Sollte er jetzt endlich erfahren, ob die Wirklichkeit mit seiner Fantasie übereinstimmte? Wollte er es überhaupt wissen?
Doch, definitiv. Aber nicht hier. Er würde sich Zeit nehmen, so wie der Schreiber sich Zeit ließ für das Beschriften der Karten. Er würde den Brief lesen. Irgendwann. In Ruhe. Was wohl darinnen stand?
4. Dezember: Barbarazweige (K)
„Ich hab` noch einen Zapfen gefunden! Und noch einen!“ Merle trug ihre Schätze zu ihrer Mutter.
„Oh, die Kiefernzapfen sind aber gut geeignet!“, stellte Mama begeistert fest. „Siehst du, die sind so schön offen.“
„Da kann ich ganz viele Pompons reinkleben. Noch viel mehr als neulich in der Kita.“
„Genau“, lächelte Mama. „Und guck mal, was ich grad entdeckt habe!“ Mama holte mehrere große Eicheln mit Hut aus ihrem Korb. „Darauf könntest du Gesichter malen, und wir könnten noch einen Bart ankleben.“
„Ja, das mache ich! Unser Weihnachtsbaum wird toll aussehen!“, strahlte Merle und gab ihrer Mutter die Zapfen. Im nächsten Moment sprang sie schon wieder ins Unterholz davon.
Mama bückte sich und legte die gesammelten Schätze in den Korb. Dabei verhakte sie sich mit der Mütze in einem Baum. „Mist, ich hänge fest“, seufzte sie.
Merle drehte sich um und rannte zurück. „Warte, ich helfe dir!“ Sie half Mama, ihren Kopf von der Mütze zu befreien, so dass sie sich wieder aufrichten konnte. Die Mütze baumelte weiter am Zweig.
„Mütze am Stiel“, lachte Merle. „Sieht lustig aus.“
Mama stimmte mit ein. „Da hast du recht.“ Sie rieb sich die Ohren. „Aber auf Dauer könnte es etwas kalt werden.“ Es hatte noch nicht geschneit, kalt genug wäre es allerdings dafür.
Vorsichtig versuchte Mama, die Mütze von dem Ast zu lösen. Dabei brach der Zweig ab. Nachdenklich blickte sie auf die beiden Gegenstände in ihrer Hand.
„Das erinnert mich an etwas, das wir als Kinder gemacht haben.“
„Echt? Bitte erzähl, bitte!“
Merle kuschelte sich an Mamas Bein. Mama sah sich um, ging zu einem großen Baumstumpf und setzte sich. Merle kletterte auf ihren Schoß.
„Als ich ein Kind war, bin ich mit deiner Oma und Tante Theresa immer am 4. Dezember in den Garten gegangen. Wir haben eine Gartenschere mitgenommen und haben ein paar Zweige vom Kirschbaum abgeschnitten. Über Nacht haben wir die Zweige manchmal zuerst noch einmal den Tiefkühler gelegt, wenn es vorher noch nicht gefroren hatte.“
Merle lachte. „Zweige im Tiefkühler! Das klingt lustig!“
„Das wäre mal eine ganz neue Eissorte: Rindengeschmack!“, lachte Mama. Dann wurde sie wieder ernst und wanderte in Gedanken in die Vergangenheit zurück. „Am nächsten Tag haben wir dann die Enden weichgeklopft und die Zweige in warmes Wasser gelegt. Sie sollten denken, es wäre schon Frühling. Dann haben wir sie in eine Vase gestellt. Wenn wir Glück hatten, haben sie an Weihnachten geblüht.“
„Oh, das sah bestimmt toll aus!“
„Ja, das tat es!“, nickte Mama. „Es ist ein Zeichen der Hoffnung. Mitten im Winter blühen Zweige. Es gibt dazu übrigens auch eine Geschichte von dem Mädchen Barbara, das in einen Turm eingesperrt wird. Auf dem Weg dorthin bleibt Barbara an einem Zweig hängen. Sie nimmt ihn mit, und er beginnt, in ihrem Turm zu blühen“, erinnert sich Mama. „Und deshalb nennt man die Zweige auch Barbarazweige. Das ist eine ganz alte Geschichte.“
„So alt wie die Bücher in deinem Koffer von früher?“, fragte Merle.
Mama schüttelte den Kopf. „Noch viel, viel älter. Aber wir haben damals noch etwas anderes gemacht.“
„Was denn?“ Merle kuschelte sich an ihre Mutter und schaute sie von unten aufmerksam an.
„Als Theresa und ich älter waren, hatte jede von uns ihren eigenen Strauß mit Zweigen. Daran haben wir Zettel mit Namen befestigt.“
„Was waren denn das für Namen?“
Mama lächelte. „Das waren die Namen von Jungs, die wir gut fanden. Und der Junge, dessen Zweig als erstes blühte, der hatte gewonnen.“
„War Papa auch mit dabei?“
„Nein“, sagte Mama wehmütig. „Papa habe ich erst viel später kennengelernt. Bei ihm brauchte ich keine Entscheidungshilfe.“
„Weißt du was?“ Merle nahm Mamas Hände und zog sie vor ihren Bauch. „Wir können das doch dieses Jahr wieder machen. Einen Zweig haben wir ja schon.“
„Das ist eine gute Idee“, stimmte Mama zu. „Wir können hier noch einen zweiten Birkenzweig nehmen. Und von unserem Apfelbaum können wir auch noch ein paar Zweige abschneiden.“
Читать дальше