1 ...7 8 9 11 12 13 ...30 „Und dann hängen wir Zettel daran“, bestimmte Merle. „Dann sind wir vielleicht bald nicht mehr allein, und du musst nicht mehr so traurig sein.“
Mama lächelte und küsste ihre Tochter auf die Wange. „Du suchst die Zweige aus. Ein bisschen Hoffnung können wir immer gebrauchen.“
4. Dezember: Am Laternenpfahl (J&E)
Mir ist kalt. Schon seit einiger Zeit spüre ich meine Pfoten kaum noch. Ich habe sie abgeleckt, aber trotzdem haben sie nur leicht gekribbelt. Es wäre besser, wenn ich weiterhin stehen würde, doch ich habe keine Kraft mehr. Deshalb liege ich jetzt hier.
Ein Napf mit Futter steht neben mir. Doch wie könnte ich jetzt essen? Mein Brustkorb fühlt sich eng an, und mein Herz tut weh. An der Stelle, an der mein Halsband ist, brennt es. Ich habe versucht, mich loszureißen, aber das Halsband sitzt zu fest und die Leine ist neu. Und doch habe ich es immer und immer wieder versucht. Ich muss ihnen doch folgen. Es ist doch meine Familie.
Meine Decke riecht noch nach Madita. Ich konnte mich von ihr nicht verabschieden. Sie hat gleichmäßig geatmet, als wir angehalten haben und man mich aus dem Auto gehoben hat. Ich dachte, dass ich mich noch einmal erleichtern soll. Es war schließlich ein besonderer Tag. Die ganze Zeit über haben sie zu Hause Dinge hin- und hergetragen und in Koffer gepackt, Madita hat ihre Spielsachen genommen, und für mich hat sie die Decke bereitgelegt. Aber ich konnte mich nicht hinlegen. Ich hatte Angst, etwas zu verpassen. Immer wieder saß ich im Weg, bekam Tritte ab und wurde angemeckert. Trotzdem bin ich nicht von meinem Platz im Flur verschwunden. Es lag etwas Besonderes in der Luft …
Doch nach meinem kurzen Spaziergang hier sind wir nicht zum Auto zurückgegangen. Ich schnupperte noch an einem Laternenpfahl, als plötzlich meine Decke neben mir lag und Herrchen zwei Näpfe hinstellte. Er strich mir noch einmal kurz über den Kopf. Dann war ich allein und musste mit ansehen, wie das Auto losfuhr. Ohne mich. Meine Familie war weg.
Madita, du fehlst mir. Du hast mich zum Geburtstag bekommen. Ich sei dein schönstes Geschenk, hast du gesagt. Doch schon nach kurzer Zeit war ich nicht mehr so interessant, und du hast mich kaum noch beachtet. Trotzdem habe ich dich lieb und freue mich, wenn du aus der Schule kommst. Ich erkenne deine Schritte aus allen anderen im Treppenhaus heraus. Wenn sich die Aufzugtüren öffnen, springst du immer mit einem kleinen Hüpfer in den Flur und brauchst dann sieben Schritte bis zu unserer Wohnung. Bis dahin habe ich mich längst geschüttelt und schnaube unter der Tür durch.
Dann warst du mit einem Mal zu Hause und bist nicht mehr morgens zur Schule aufgebrochen. Überall waren Heimlichkeiten. Es lagen Dinge herum, die sonst nicht dort liegen. Und dann habt ihr plötzlich einen Baum ins Wohnzimmer getragen. Am nächsten Tag habt ihr alle zusammen davorgesessen und Geschenke ausgepackt. Mich hast du nur ein Mal kurz gestreichelt. Ansonsten hast du mich nicht beachtet. Anderes war viel interessanter.
Ich habe die Sätze gehört, aber ich habe sie nicht verstanden. „Was machen wir mit Theo? Onkel Dieter will ihn nicht, und Tante Bettina ist selber weg. Mitbringen dürfen wir ihn auch nicht.“ Was sollte das bedeuten?
Die Autos sausen in der Ferne vorbei. Es ist keine große Masse mehr. Inzwischen kann man sie einzeln hören. Dort hinten fahren sie langsamer und halten auch bei dem hell erleuchteten Haus an. Doch wenn sie später an mir vorbeifahren, sind sie fast schon wieder so schnell wie dort in der Ferne. Kein Auto bremst bei mir. Und nie ist das Motorengeräusch dabei, auf das ich warte.
Da wird ein Auto langsamer. Ist das vielleicht …? Nein, doch nicht. Es fehlt etwas. So ein Stottern … Trotzdem bleibt das Auto stehen. Die Lampen leuchten zu mir herüber. Ich muss die Augen schließen.
Eine Autotür wird geöffnet, jemand steigt aus und nähert sich mit leichten, schnellen Schritten. Es scheint eine Frau zu sein. Sie riecht fürsorglich, aber auch traurig und erschrocken. Ihre Stimme klingt nett, warm, freundlich. Sie spricht mit mir. Ich blinzele. Würde es sich lohnen, die Augen zu öffnen?
5. Dezember: Flip und Flop in der Nikolausnacht (K)
„Ich bin ja wirklich mal gespannt, was uns erwartet.“
Flip reckte sich und versuchte, im Halbdunkel etwas zu erkennen. „Hey, wie kannst du denn jetzt schlafen?“ Vorwurfsvoll sah er zu seinem Bruder, der schon wieder leise schnarchte, und stupste ihn an.
„Was hast du gesagt?“ Flop sah sich verwirrt um. „Was ist los? Wo …? Warum …?“
Flip lachte. „Du kannst wirklich überall schlafen. Sogar beim Reden.“
„Beim Reden?“, wiederholte Flop verständnislos.
Flip grinste. „Na ja, mir scheint, dein Kopf schläft immer noch, auch wenn du redest.“ Er sah sich erneut um und ergänzte: „Zu Wo? kann ich dir sagen: Wir sind im Wohnzimmer. Warum? Tja, wenn ich das mal wüsste. Ich habe gestern Abend nur gehört, dass Milo irgendwas von Überraschung und Stiefeln und Geschenken erzählt hat.“
„Aber wir sind doch keine Stiefel“, wunderte sich Flop. „Und außerdem gehören wir doch Franzi. Weiß sie überhaupt, dass wir hier sind?“
„Ja, da kann ich dich beruhigen. Milo hat sie gefragt.“ Flip kicherte. „Allerdings erst, nachdem er uns aus dem Schrank geholt und hierhin gestellt hatte.“
„Das passt zu ihm.“ Flop gähnte und schüttelte sich. „Mir ist kalt. Und ich bin müde. Sooooo müde …“
„Na das ist doch nichts Neues“, stellte Flip fest. „Aber kalt ist es wirklich. Und es riecht auch ganz anders. Sommer ist grad bestimmt nicht.“
„Könnt ihr nicht ein bisschen leiser sein?“, grummelte der Wanderschuh neben Flop. „Ich bin auch müde und muss meine Kräfte sammeln. Morgen stürzen sich wieder alle auf uns. Dafür brauche ich starke Nerven. Sonst ertrage ich das nicht.“
„Du weißt, weshalb wir hier sind?“ Aufgeregt rutschte Flip etwas näher. „Erzähl!“
„Bitte!“, ergänzte Flop.
Die Flip-Flops setzten ihren Welpenblick auf und bettelten. „Bitte, bitte, bitte!“
„Na gut.“ Der Wanderschuh drehte sich zu seinen neugierigen Nachbarn. „Morgen ist Nikolaustag. Und am Abend vorher putzt jeder aus der Familie seine Stiefel oder anderen großen Schuhe und stellt sie für den Nikolaus hin. Der kommt nämlich noch in dieser Nacht und füllt uns mit Geschenken. Das ist so Tradition. Immer am Nikolaustag finden die Kinder dann morgens kleine Überraschungen in ihren Schuhen. Manchmal auch die Erwachsenen der Familie.“ Nachdenklich betrachtete er die Flip-Flops neben sich. „Warum ihr aber heute mit dabei seid, ist mir noch nicht ganz klar.“
„Oh, da kann ich helfen!“, meldete sich der hohe Stiefel vom Rand. „Ich stand schon ganz zu Beginn hier und habe alles mitbekommen.“
„Ja, bitte, erzähle es uns!“ Flip nickte überschwänglich. Selbst Flop hatte sich inzwischen aufgerichtet und lauschte mit großen Augen.
„Wie gesagt, meine Schwester und ich, wir waren als Erste fertig.“ Fast zärtlich sah der Stiefel zu seinem Zwilling hinüber. „Franzi hat uns direkt geputzt, nachdem sie mit den Hausaufgaben fertig war. Ganz sorgfältig hat sie es gemacht. Zuerst hat sie den groben Schmutz entfernt, hat uns dann mit Schuhcreme eingerieben und uns sogar poliert. Ach, das war toll. Eine richtig schöne Massage. So intensiv gibt es die leider nur einmal im Jahr. Also, wenn ihr mich fragt, könnte häufiger Nikolaustag sein.“ Der Stiefel lachte. „Aber das interessiert euch ja gar nicht. Dazu seid ihr noch zu jung. In meinem Alter zählen nicht mehr aufregende Ereignisse. Entspannung und Wellness sind da viel interessanter.“
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