„Nein. Aber Sie werden es mir bestimmt gleich verraten.“
„Hier findet auch eine Adventsfeier statt. Also, es ist alles dafür aufgebaut, aber mit Kuscheltieren und mitten im Gang.“
Der Chef lachte dröhnend ins Telefon. „Sie wollen mir also sagen, die Kuscheltiere feiern Advent?!?“
„Genau, Chef. Warten Sie, ich schicke Ihnen gleich ein Foto.“
Horst beendete das Telefonat und ging um die Ecke. Vor ihm lag wieder der Platz bei den Rolltreppen. Er war frei. Kein Kuscheltier und kein Spielzeug stand mehr im Weg. Nur ein angebissener Keks lag noch herum.
Horst schüttelte den Kopf. Das war doch nicht möglich … Gerade hatte es noch so ausgesehen, als ob da im Gang eine Adventsfeier mit ganz vielen Kuscheltieren stattgefunden hätte. Und jetzt? Der Aufbau konnte sich doch nicht in Luft auflösen.
Horst sah sich um. Dort hinten hing ein Affe am Wandregal, mitten vor den anderen Fächern. Schwankte der nicht hin und her? Und der alte Clown mit der Trommel, der sonst immer auf dem obersten Brett stand, saß daneben und stützte sich auf einen Schlägel. Zwinkerte der ihm etwa zu? Das konnte nicht sein. Er, Horst, Nachtwächter aus Leidenschaft, war es doch gewohnt, nachts zu arbeiten. Da sah er doch nicht plötzlich Dinge, die es so nicht gab. Nicht geben konnte. Oder etwa doch?
2. Dezember: Weihnachtserdnüsse (J&E)
„… und deshalb haben sie sich überlegt, es dieses Mal digital stattfinden zu lassen. Ein Adventskalender für die ganze Familie, live im Internet. Na ja, nicht live, aber für jeden einzelnen ja irgendwie schon!“
Carolin rollte genervt mit den Augen, während das Lachen ihres Chefs dröhnend durch das Telefon klang. Eigentlich war er gar nicht wirklich ihr Chef. Sie war Freelancerin, arbeitete aber schon so lange für dieses Entwicklerbüro als Grafikerin, dass es sich fast so anfühlte, als würde sie fest dazugehören. Früher war sie auch mindestens einmal im Monat zu einer persönlichen Besprechung im Büro gewesen. Der direkte Kontakt war ihren Auftraggebern immer wichtig. Doch das schien wie aus einer anderen Welt zu sein. Inzwischen hatte sie ihr Büro ins Wohnzimmer verlegt. Auf dem Esstisch stand ihr Laptop mit dem großen Monitor, daneben stapelten sich Bleistiftskizzen. Den Couchtisch hatte ihre jüngere Tochter mit ihren Schulsachen in Beschlag genommen, genauso wie den umliegenden Boden, die Sofas und Stühle. Und um überhaupt zu den Tischen gelangen zu können, musste man Slalom laufen oder wie ein Storch stolzieren. Kneippen im Wohnzimmer. Und im Flur. Von den Kinderzimmern ganz zu schweigen … Carolin seufzte. Schön sah es nicht aus. Aber die Zeit …
„… einen ersten Entwurf bis Ende der Woche. Bekommst du das hin?“
Ups, er redete ja schon wieder. Es ging wohl um das Design der Türchen, so hoffte sie zumindest.
„Bis Ende der Woche ist ganz schön knapp. Da ist ja auch noch der CFI-Auftrag.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbrach sie der Projektleiter. „Das kannst du schieben. Mit der Adventszeit lässt sich das aber nicht machen.“
Carolin seufzte. „Nein, leider nicht. Ich habe für unsere Adventskalender noch gar nichts.“
„Dann kannst du deinen Girlies ja den Link zu unserem Projekt geben. Adventskalenderproblem gelöst.“
„Ich glaube, dann hätte ich erst recht ein Problem!“ Carolin konnte sich die enttäuschten Gesichter ihrer Töchter lebhaft vorstellen, wenn sie ihnen als Adventskalender nur einen Link präsentieren würde. Aber mit dieser Baustelle würde sie sich ein anderes Mal beschäftigen.
„Doch zurück zu unserem Projekt“, unterbrach der Projektleiter ihre Gedanken. „Erster Entwurf bis Ende der Woche? Ist das gebongt? Und die fertige Abgabe dann eine Woche später. Ich erwarte also kein achtes Weltwunder. Einfach nur nette Bildchen, die auf einen Blick zusammen schön aussehen. Geeignet für die ganze Familie, also nicht zu kitschig, aber auch nicht zu verstaubt. Die Kinder sollen sich ja auch angesprochen fühlen. Du weißt ja: …“
„Verspielte Seriosität?“, ergänzte Carolin und grinste. Das hatte einmal ein Kunde gefordert und es hatte sich zum geflügelten Wort im Büro entwickelt. „Okay, wenn ich CFI erst einmal aufs Eis legen kann, dann schaffe ich das. Sind ja drei Tage bis Freitag. Das sollte reichen für einen ersten Entwurf. Schreibst du alles noch in den Projektordner?“
„Klar, lege ich dir ab. Und danke schon mal.“
„Danke dir!“, entgegnete Carolin automatisch und verabschiedete sich.
„Wer war das?“, fragte Leonora ihre Mama, als diese das Headset absetzte.
Carolin seufzte. Sie hatte schon so oft darum gebeten, in Ruhe telefonieren zu können. Das klappte inzwischen. Schließlich gingen beide Kinder ja auch schon in die Schule. Also theoretisch zumindest. Im Moment bedeutete es: Schule zu Hause. Aber dass das Gespräch noch nicht bei der Verabschiedung vorbei war, schien Leonora immer wieder zu vergessen. Hoffentlich hatte ihr Gesprächspartner es nicht gehört. Wobei, eigentlich wäre es nicht so schlimm. Zurzeit arbeitete ja fast jeder zu Hause. Wie oft waren da schon Kinder in die Videokonferenzen hineingeplatzt oder hatten auf dem Schoß der Kollegen gesessen, weil sie Kuschelzeit brauchten … Aber sie versuchte trotzdem noch, eine gewisse Arbeitsatmosphäre zu bewahren.
„Das war mein Arbeitskollege“, beantwortete Carolin die Frage ihrer Tochter. „Ich habe einen neuen Auftrag.“
„Oh cool, was denn?“
„Ich soll Bilder für die Türchen eines Adventskalenders gestalten.“
„Ooooooh!“ Leonora stand auf. Sie redete immer mit Händen und Füßen. „Kann ich nicht auch so was machen? Das wäre was für mich. Das wäre viel cooler als das blöde Mathe hier. Ich hab keinen Bock auf Schule. Wann bin ich denn fertig für heute?“ Sie trank einen Schluck Wasser. Dann streckte sie ihrer Mutter den Zeigefinger hin. „Weißt du, warum ich mir hier ein Pflaster drangemacht habe?“
„Nein.“ Abgelenkt schaute Carolin auf ihren Zeichenblock. Darauf waren bisher nur mehrere Kästchen zu sehen. Wie könnte sie sie wohl füllen?
„Das habe ich draufgemacht, damit ich nicht mehr dran knabbern kann. Das soll mein einziger langer Fingernagel werden.“ Leonora griff nach dem Holzstück aus der Dominokiste, das vor ihr auf dem Sofa lag. Sie tippte mit dem umwickelten Finger darauf. „Klingt schön. Ganz anders als mit den anderen Fingern. Mama, hörst du das?“ Sie ging zu ihrer Mutter hinüber. „Hier, klingt viel heller, hörst du?“
„Hmmm …“
Leonora sah auf den Tisch. „Du könntest doch Engel malen. Einer könnte trommeln. Oder Blockflöte spielen.“ Sie drehte den Dominostein, den sie für ihre Matheaufgaben als Beispiel für einen Quader herausgeholt hatte, tippte darauf und tat so, als würde sie hineinblasen. „Das ist doch fast ‘ne Blockflöte, oder?“ Sie legte den Stein weg, ging zum Schrank und griff nach ihrer alten Plastikblockflöte. „Ist doch fast genauso.“ Sie spielte ein paar Töne. „Das geht aber schlecht mit dem Pflaster. Man trifft ja gar nicht …“ Prompt wanderte die Flöte neben den Quader auf den Tisch. „Was hattest du denn gedacht?“
„Was?“ Carolin tauchte aus ihren Gedanken auf. „Ach so. Na ja … Engel sind irgendwie so normal. Ich würde gern irgendwas Witziges haben. Vielleicht ein Tier oder so. Und die Zahl muss auch immer noch dabei sein.“
„Nimm doch einen Pinguin! Pinguine sind immer süß. Und es gibt immer weniger.“
„Weil die Eisbären so viele auffuttern?“, vermutete Carolin und grinste.
„Nein, Mama! Das geht überhaupt nicht! Aber das weißt du doch! Guck mal!“ Leonora holte sich den Ball vom Sofa, der bei ihrer Matheaufgabe die Kugel verkörpert hatte. „Guck mal: Da oben leben die Eisbären. Da, am Nordpol. Und da unten“, sie drehte ihren imaginären Globus, „da leben die Pinguine. Die KÖNNEN sich also gar nicht begegnen!“
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