Bello war ein guter Zuhörer. Er konnte hervorragend trösten und kuscheln und er meckerte nie, wenn sie ihn viel zu fest an sich drückte oder auf seinem Ohr liegend einschlief. Und er schien immer zu wissen, wie es ihr ging, manchmal sogar, noch bevor sie es sich selber eingestehen konnte.
„Na, bist du zu aufgeregt zum Schlafen?“ Bello stupste sie freundlich in die Seite.
Mila nickte. „Ist doch auch kein Wunder“, flüsterte sie zurück. „Mama hat heute den Adventskalender aufgehängt, und sie hat gesagt, dass in der Nacht die Wichtelmännchen kommen und die Geschenke dranhängen.“
„Und du würdest sie gern sehen?“
„Du doch auch!“
„Hmmmm …“, brummte Bello zustimmend. „Aber woher weißt du, dass sie diese Nacht unterwegs sind?“
„Noch ein Mal schlafen und dann darf ich doch schon das erste Päckchen aufmachen. Also müssen sie diese Nacht die Geschenke anbringen. Sonst kann ich morgen doch gar nichts aufmachen!“
„Da ist was Wahres dran …“ Bello überlegte. „Aber was ist, wenn sie nur kommen, wenn du schläfst?“
„Dann müssen wir einfach ganz leise sein, damit sie uns nicht hören. Und so tun, als ob wir schlafen.“
Mila legte sich auf die Seite, kuschelte sich in die Decke, achtete aber darauf, dass beide Ohren frei blieben. Sie dachte an den Wandbehang an der Küchentür, der mit vielen kleinen Wichtelmännchen und vierundzwanzig Zahlen bestickt war. Bei jeder Zahl war ein Ring angenäht, an dem dann ein Geschenk hängen würde. Mama hatte den Kalender gestaltet, als Mila damals in ihrem Bauch gewesen war. Und jedes Jahr holte sie ihn einen Tag vor dem 1. Dezember heraus. Heute schon zum sechsten Mal. An die ersten Jahre konnte Mila sich natürlich nicht erinnern, aber es gab Fotos, auf denen sie sich nach Geschenken streckte und versuchte, dabei nicht umzufallen.
Bello schnarchte leise vor sich hin. Mila lächelte. Und gähnte. Ihre Augen fingen auch schon an zu brennen. Wenn sie sie nur einmal kurz schließen würde …
„Pass doch auf!“, zischte eine Stimme. „Du bist mir schon wieder in die Hacken gelaufen!“
„Das kann überhaupt nicht sein“, brummte eine zweite Stimme zurück. „Ich bin weit hinter dir. So lang sind meine Beine überhaupt nicht. Außerdem könntest du mir mit dem Koffer ruhig mal helfen!“
„Ich trage dafür die Bänder. Und wer hat die ganzen Geschenke überhaupt erst eingepackt und in den Koffer gesteckt?“
„Geht das schon wieder los?“, beschwerte sich die zweite Stimme. „Du hast doch Poldi gehört. Wir arbeiten alle zusammen und versuchen, uns zu unterstützen, um den Menschen eine schöne Adventszeit zu gestalten. Dabei kommt es auf das Ergebnis an und nicht darauf, wer wie viel gemacht hat.“
„ Du willst doch, dass ich dir mit dem Koffer helfe!“, wunderte sich die erste Stimme.
„Um Hilfe zu bitten, sollte ja wohl auch noch erlaubt sein, vor allem, weil ich …“ Der Rest des Satzes ging in einem Poltern mit leisen Schreien unter.
Mila kletterte aus dem Bett und schlich zur Tür. Die Stimmen waren jetzt viel schwächer zu hören als vorher.
„Jetzt ist der Koffer aufgegangen, und wir sind mit allen Geschenken die Treppe hinuntergepurzelt“, beschwerte sich die zweite Stimme.
„Und hier am Bein bekomme ich bestimmt wieder einen blauen Fleck“, jammerte die erste Stimme. „Ich bin böse gefallen, weil ich mich in den Bändern verheddert habe. Es schwillt bestimmt auch an. Ganz sicher. Ich merke das schon …“
„Ja, ja, ich weiß. Du bist ganz schwer verletzt. Wie damals, als du dachtest, dass du nie wieder laufen könntest, nur weil dir ein Kuscheltier-Elefant auf den Fuß gestiegen war. Aber das können wir morgen klären. Jetzt hilf mir bitte erst mal mit den Geschenken. Wir müssen sie einsammeln und aufhängen, bevor noch jemand mitbekommt, dass wir hier sind.“
Mila hörte geschäftiges Trippeln, Schieben, Rascheln und Schleifen. Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu gucken, doch der untere Treppenabsatz lag nicht in ihrem Blickfeld. Außerdem war der Flur dunkel.
Sollte sie die Tür vorsichtig öffnen? Aber wenn sie dadurch die Wesen verscheuchte? Sie presste das Ohr an die Tür.
„So, geschafft!“ Der Koffer wurde mit einem Klicken verschlossen.
„Warte, ich helfe dir“, meldete sich die erste Stimme.
„Ach, jetzt doch auf einmal? Du willst wohl nicht ein zweites Mal hinfallen?“, spöttelte die zweite Stimme.
„Ist doch egal, freu dich doch! Außerdem hab’ ich Hunger. Ich habe noch überhaupt nichts gefrühstückt, weil du so gedrängelt hast.“
Mila hörte ein paar letzte Trippelschritte, die Flurtür öffnete und schloss sich, und dann war wieder Ruhe.
Vorsichtig drückte sie ihre Türklinke hinunter. Es war still im Haus. Der Flur lag dunkel vor ihr, nur spärlich erhellt durch das Mondlicht, das durch ein kleines Fenster im Treppenhaus fiel. Niemand war zu sehen.
Mila schloss die Tür und schlich wieder ins Bett zurück.
Am nächsten Morgen rannte sie mit Bello direkt zum Adventskalender. An jedem Ring hing ein kleines Geschenk, fein säuberlich befestigt mit einem roten Band. Manche Päckchen sahen allerdings ein bisschen zerknautscht aus, hatten eingedrückte Ecken oder leicht zerknittertes Papier.
Mila lächelte und flüsterte Bello zu: „Ich muss dir gleich unbedingt was erzählen. Das glaubst du nie!“
1. Dezember: Das Plätzchenrezept (J&E)
Sarah nahm sich einen kleinen Brocken aus der Schüssel und steckte ihn in den Mund. Hmmm … Gar nicht so übel. Aber etwas Besonderes war es auch nicht. Sollte sie noch etwas mehr Zimt nehmen? Nein, das hatte sie gestern schon probiert. Oder noch etwas mehr Kakao? Vielleicht war es auch schon zu viel? Sarah seufzte und vertiefte sich grübelnd wieder in ihr Rezept. Eigentlich müsste sie gar nicht mehr nachschauen, so oft hatte sie sich schon in den letzten Tagen daran versucht. Und jedes Mal war sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen. Dabei backte sie diese Plätzchen schon seit ihrer Kindheit.
Für Sarah,
zum 11. Geburtstag
von Mama und Papa,
stand als Widmung auf der ersten Seite. Und seitdem hatte sie die Kekse in jedem Jahr gebacken, mindestens zwölf Mal. Und bis zum letzten Jahr war sie auch immer damit zufrieden gewesen. Aber allein in dieser Adventszeit hatte sie schon genauso viele Versuche gestartet. Und keines dieser Ergebnisse kam an die Plätzchen aus dem Vorjahr heran. Dabei wäre es grad in dieses Mal so wichtig gewesen.
Dieses war jetzt ihre letzte Chance, leckere Exemplare zu produzieren, denn morgen würde sie in den Zug steigen. Der Koffer war schon gepackt. Sie hatte gleich damit angefangen, als Alex die Nachricht geschickt hatte, die Nachricht, die sie nachts mit Herzklopfen aufwachen ließ. Die Nachricht, die dazu führte, dass sie tagsüber mit einem dümmlichen Lächeln aus dem Fenster starrte. Die gleiche Nachricht, die sie blind und taub machte, so dass ihre Kollegen sie schon in die Seite stießen, wenn Kunden Hilfe benötigten. Jedes Outfit war bewusst gewählt, gebügelt und ordentlich gefaltet im Koffer gelandet. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen ihr Lieblingsshirt und die neue Jeans für die Fahrt, dazu ihre edelste Unterwäsche. Nur eine Ecke des Koffers hatte sie freigelassen. Für ihre schönste Plätzchendose. Aber was ihr dafür noch fehlte, waren eben genau noch die Plätzchen. Dieser Versuch musste einfach gut werden.
Toll, dass Du auch kommst. Auf Dich freue ich mich besonders. Und auf Deine Kekse … Dazu hatte Alex einen seiner berühmten Grinsesmileys gesetzt. Er schien eine geheime Quelle dafür zu kennen. Als sie alle noch nur mit Lachen und Weinen gearbeitet hatten, hatte er ganze Gemälde aus Zeichen gestaltet. Und jetzt schien er für jede Emotion ein Bildchen zu kennen. Bisher hatte sie es nur im Gruppenchat bewundern dürfen. Aber die letzte Nachricht war für sie gewesen, nur für sie allein. Ein zwinkerndes Gesicht mit roten Wangen und einem angedeuteten Kuss. Das konnte nur bedeuten, dass er den Abend vom letzten Jahr auch nicht vergessen hatte. Und ausgerechnet jetzt wollten die Kekse einfach nichts werden.
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