„Das kann doch nicht wahr sein! Warum klappt das denn nicht?“
Sarah schlug entnervt das Buch zu und steckte sich noch einen Brocken des Teiges in den Mund.
„Weil deine Erinnerungen dir einen Streich spielen!“
Wo kam denn das gerade her? Sarah sah sich erstaunt um. Sie kannte niemand mit einer so hellen Stimme. Außerdem war sie doch allein in der WG.
„Du kannst mich nicht sehen.“ Die Stimme lachte. „Ich bin nämlich in dir.“
„In mir? Was soll das denn heißen?“
„Ganz einfach. Ich bin deine innere Stimme. Normalerweise kennst du mich nur, wenn du eine Idee hast. Oder wenn du nachdenkst. Dann klinge ich aber wie du. Also, wie ich. Denn ich bin ja du. Wir sind ja ich …“ Sarah hörte förmlich, wie die Stimme den Kopf schüttelte. „Du bringst mich ja völlig durcheinander.“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Sarah automatisch.
„Schon gut. Ich wäre auch verwirrt, wenn ich mich das erste Mal hören würde.“
„Nein, es tut mir überhaupt nicht leid.“ Sarah stieß sich von der Arbeitsplatte ab und ging entschlossen durch die Küche. „Was rede ich denn da? Ich bin verrückt! Ich rede mit einer Stimme und entschuldige mich auch noch, dass ich die Stimme durcheinanderbringe. Was ist das denn für ein Quatsch?“
„Du bist nicht verrückt!“
„Nein, natürlich nicht, weil das ein blöder Scherz ist! Wer hat das inszeniert? Stefan? Oder Chrissy? Ihr hattet euren Spaß. Ich bin voll drauf reingefallen. Haha, sehr witzig! Aber jetzt kommt raus!“
„Deine Mitbewohner haben damit nichts zu tun. Ich bin es wirklich.“ Die Stimme klang ein bisschen ungehalten. „Ich kann auch wie du klingen. So kennst du mich.“
Sarah runzelte die Stirn.
„Ja, so hast du mich schon oft gehört“, dachte die Stimme in Sarahs Kopf. Sie klang nun wie ihre eigene Stimme. „Wenn die Plätzchen doch nur endlich so schmecken würden wie im letzten Jahr! Das denkst du doch, oder?“
„Das ist ja auch nicht schwer zu erraten! Schließlich wissen alle, dass ich seit fast zwei Wochen jeden Abend diese bescheuerten Kekse backe. Jeden Tag! Ich kann sie nicht mehr sehen. Und deshalb hat ja auch schon fast jeder in meinen Kursen oder im Copyshop meine Kekse gegessen.“
„Aber nur ich weiß, warum du dir solche Mühe gibst.“ Die Gedanken kamen einfach so in ihren Kopf. „Denn ich war letztes Jahr auch mit dabei.“
„Aaaaah! Das ist doch alles nicht wahr!“ Sarah blieb stehen, raufte sich die Haare und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab. „Red wenigstens wieder mit deiner normalen Stimme. Das macht mich fertig, wenn du so klingst wie meine Gedanken. Wie soll ich dann wissen, was ich denke und was du sagst?“
„Bitte, gern, wenn es dir so lieber ist“, hörte Sarah wieder die hohe Stimme. „Aber eigentlich ist es auch völlig egal. Denn ich bin du. Das wollte ich dir ja gerade schon erklären, aber du hast mich unterbrochen. Darf ich jetzt?“
„Bitte, bitte, tu dir keinen Zwang an.“ Sarah wischte einen Krümel von der Arbeitsfläche. „Sag, was du zu sagen hast. Und dann lass mich bitte wieder in Ruhe!“
„Den Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Denn wie ich schon sagte, ich bin ein Teil von dir. Ich bin deine innere Stimme. Ich bin bei dir, solange du denken kannst. Ich bin dein Denken und ich bin dein Gewissen. Und ich gestalte mit dir deine Erinnerung.“
„Was meinst du damit, wir gestalten meine Erinnerung?“
„Dazu komme ich noch später. Denn das ist ein wesentlicher Punkt. Erinnerung ist subjektiv. Aber wo war ich? Ach ja, dabei, dass ich ein Teil von dir bin. Ich bin immer da. Wir sind zur gleichen Zeit wach, wir schlafen zur gleichen Zeit. Wir essen zusammen und wir arbeiten zusammen. Wir machen zusammen Sport, wir leiden zusammen, wir freuen uns zusammen und wir lieben zusammen. Wir kommen zusammen auf die Welt und wir sterben zusammen. Wir sind eins. Und meistens sind wir auch einer Meinung. Wenn du unsicher bist, fragst du mich um Rat und hörst auf mich. Das ist gut, denn es ist wichtig, mit sich selbst im Reinen zu sein. Aber die letzten Tage, da weiß ich gar nicht, was ich mit dir machen soll.“
„Die letzten Tage?“, unterbrach Sarah den Gedankengang ihrer inneren Stimme.
„Du weißt genau, was ich meine. Die letzten fast zwei Wochen bist du nicht mehr du selbst gewesen. Genauer gesagt seit 13 Tagen, seit dem Moment, in dem du die Nachricht gelesen hast, die Alex dir geschrieben hat.“
„Du weißt von der Nachricht?“ Sarah spürte, wie ihre Wangen warm wurden.
Ihre Stimme seufzte. „Natürlich weiß ich von der Nachricht. Soll ich es noch einmal wiederholen? Wir sind zur gleichen Zeit wach, wir schlafen zur gleichen Zeit. Wir essen …“
„Nein, schon gut! Ich glaube, ich habe es verstanden.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Soweit man das überhaupt verstehen kann …“
„Also, noch einmal zurück: Natürlich kenne ich die Nachricht. Und ich weiß auch, warum du seitdem jeden Tag Plätzchen backst. Und jeden Tag nimmst du dafür dasselbe Rezept. Nicht mal Vanillekipferl und dann Lebkuchen, am nächsten Tag vielleicht Schwarzweiß-Gebäck und danach Schoko-Nuss-Makronen. Nein, immer dasselbe Rezept. Das Rezept, das du seit deinem 11. Geburtstag in jedem Jahr gebacken hast.“
„Ja, und immer haben die Kekse geschmeckt. Nur jetzt, ausgerechnet jetzt wollen sie nichts werden“, jammerte Sarah. „Dabei habe ich alles probiert: Ich habe mal ein bisschen mehr Zimt genommen, mal ein bisschen weniger, mal mehr Kakao, mal weniger Kakao, dafür aber mehr Zimt und Honig, mal waren sie bei niedrigerer Temperatur länger im Backofen, mal hatte ich ihn etwas heißer eingestellt. Was ich auch versucht habe, nichts hat geholfen! Und jetzt erzählst du mir, ich sei nicht ganz bei mir. Ist das etwa ein Wunder?“ Sarah ließ sich auf den Fußboden sinken und lehnte sich gegen den Küchenschrank.
„Hast du den Keksen denn jemals eine echte Chance gegeben?“, fragte die Stimme freundlich.
„Wie meinst du das? Natürlich habe ich sie probiert!“
„Ja, das weiß ich. Aber was hast du dabei gedacht, als du sie probiert hast? Vor zwölf Tagen oder letzte Woche oder gestern?“
„Das musst du doch wissen! Ich dachte, wir machen alles zusammen.“
„Natürlich weiß ich es. Ich möchte es aber von dir hören!“
Sarah schüttelte den Kopf. Sie hatte fast den Eindruck, ihre Stimme würde sich zurücklehnen und sie abwartend ansehen. Vielleicht wippte sie auch noch mit dem Fuß. Hatte sie etwa Sandalen an? Flip-Flops? Im Winter? Was denke ich da nur? Eine Stimme trägt Flip-Flops?
„Du lenkst ab!“, ermahnte sie die Stimme. „Natürlich trage ich gern Flip-Flops. Ich bin du, schon vergessen?“
Sarah sah auf ihre Füße. Ja, auch sie lief gern barfuß oder mit Flip-Flops herum. Im Winter allerdings nur in der Wohnung. Dafür zog sie sich allerdings auch als erste einen Pullover über, wenn alle anderen noch kurzärmelig herumliefen und die letzten Sonnenstrahlen genossen. Eigentlich war sie eben doch ein Friasling, wie ihr Vater sie früher immer genannt hatte, da sie so schnell fror.
„Ein Friasling mit Flip-Flops“, lachte die Stimme. „Aber zurück zum Thema!“
„Was war das noch mal?“
„Die Kekse. Hast du ihnen jemals eine echte Chance gegeben? Was hast du gedacht, als du sie probiert hast? Oder besser: Woran hast du dabei gedacht?“
Sarah atmete tief ein und aus und schloss die Augen. Sofort fühlte sie sich zurückversetzt an den einen entscheidenden Abend im letzten Jahr. Auch damals waren sie zusammen auf der Hütte gewesen, Sarah, Alex, Jenny, Niklas und Tobi, ihre ganze Clique aus der Schulzeit. Sie waren zusammen Ski gefahren, hatten Schneewanderungen unternommen, waren im Schwimmbad und hatten sich eine Schneeballschlacht geliefert, die sich gewaschen hatte, bis sie dann lachend im Schnee gelandet waren. Abends hatten sie bei Käse und Wein zusammengesessen und sich die alten Geschichten erzählt. Von Herrn Schleich, der ohne seine Chemie-Notizen aufgeschmissen war, und der alten Knobloch, die immer heimlich ihre Illustrierten während der Aufsicht las. Und irgendwann waren nur noch Alex und sie übrig geblieben. Das Feuer knisterte, sie lachten, der Wein zeigte seine Wirkung, und nach und nach war der Abstand zwischen ihnen immer geringer geworden. Es fühlte sich einfach nur natürlich an, sich an ihn zu lehnen, ihre Hand in seiner zu spüren, seinen Daumen auf ihrem Handrücken, ihrer beider Finger, die sich ineinander verschränkten. Ihr ganzer Körper hatte gekribbelt, nicht nur die Stellen, die er berührt hatte. Und dann hatten sie sich mit Plätzchen gefüttert, den Plätzchen, die sie mitgebracht hatte. Irgendwann wischte er ihr einen Krümel aus dem Mundwinkel und küsste sie vorsichtig. Sie fühlte Wärme, Kribbeln, das Kratzen seines Bartansatzes, schmeckte Wein, Käse und eben ihre Plätzchen. Sie fühlte sich zu Hause, angekommen, eine vertraute Situation und trotzdem aufregend neu.
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