Das war jedoch die einzige Variante, den Stau an unserer Sitzreihe zu vermeiden und falsche Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
Gleiches Szenario, nur einige Minuten später und diesmal fiel die Beköstigung in fester Form aus. Die Ausgabe des leckeren Essens nahte. Richtig gelesen, zu diesem Zeitpunkt gab es auf Flugstrecken noch etwas zu Essen, welches im Flugpreis inbegriffen war und lecker ist schließlich eine Frage des Geschmacks. Wenn man Hunger hat und es nichts anderes gibt, wird auf einmal ein trockenes, geschmackloses Brötchen zur Delikatesse.
Das Platzproblem wollten die Stewardessen beim Einsammeln der leeren Tabletts sowie der Getränkebecher umgehen und ließen uns einfach außen vor. Die Eine kehrte vor unserer Sitzreihe um, die Andere stoppte hinter uns. Wir drei wurden gekonnt ignoriert. Robert und ich sahen uns fragend und skeptisch an. Als ob die Dame in Uniform unsere Mimik deuten konnte, kam sie doch noch auf uns zu und sammelte die Tabletts ein. Wie eine Kellnerin im Restaurant trug sie diese vor zu dem Servierwagen. „Geht doch“, dachte ich. Das Problem war gelöst. Warum nicht gleich so. Ich gehe fest davon aus, dass für Hans die Konstellation bestimmt auch unangenehm war. Er konnte nichts für seine Körperfülle, er war krank und durch die Einnahme diverser Tabletten so korpulent. Er hatte sich sein Schicksal und somit sein Gewicht nicht ausgesucht. Ausreichender Vorurteilen sei Dank, erntete er genügend abwertende und fragende Blicke, die ihn förmlich anschrien: „Wie kannst du nur so viel essen, um so fett zu sein!?“
Ich bin der Meinung, im Grundsatz ist jeder Mensch gleich. Warum der eine so aussieht und der andere anders oder warum sich manche in diversen Situationen so verhalten, wie sie es eben tun, ist in erster Linie zu erfragen, bevor gewertet wird!
In unserer Singlesitzreihe kehrte einfach keine Ruhe ein. In dem Moment, in dem andere Passagiere sich die Kopfhörer aufsetzten, um Musik zu hören oder sich ein Buch zur Hand nahmen, um zu Lesen, wurde es Robert plötzlich schlecht. Er wurde ganz blass im Gesicht, hielt eine Hand auf seinen Bauch und mit der Anderen den Mund. Ich blickte nervös zu ihm rüber. „Soll ich Ihnen die Kotztüte reichen?“, bot ich ihm meine Hilfe an. Mir ist bewusst, dass dies nicht die beste Ausdrucksweise war. Ich hätte auch zu Robert sagen können: „Soll ich Ihnen die braune Papiertüte aus der Sitztasche des Vordermanns reichen, falls sich Ihr Gemüts- und Gesundheitszustand verändert und Sie ein Gefühl der Übelkeit überkommt, welchem Sie nachgehen müssen?“. Diese Variante dauerte eindeutig zu lange. Bis ich die Frage beendet hätte, hätte Robert vermutlich schon auf seinen Schoss gebrochen.
Er nickte. Ich handelte zügig. Somit zog ich aus der Tasche des Sitzes meines Vordermannes die braune Papiertüte und reichte sie meinem Nebenan. Zügig presste er sie auf seinen Mund und Nase und atmete in sie tief ein und wieder aus. Hans konnte die Situation logischerweise nicht übersehen, so nah, wie wir beieinandersaßen und erhob sich freundlicher Weise. Gut, es war mehr ein hochwuchten und herausquälen, aber immerhin. Nun war der Weg frei. Der junge Mann konnte von seinem Sitz aufstehen und schnurstracks zur Toilette eilen.
Wenn Hans einmal stand, nutzte ich ebenfalls die Gelegenheit und erhob mich. Somit ersparten wir uns einmal mehr das Hochjagen des Schwergewichts.
Vor Abflug kam meinem Toilettengang das Boarding in die Quere und mittlerweile drückte mein Hosenbund gewaltig auf meine nunmehr noch vollere Blase. Wenn ich es mir recht überlege, wählte ich keinen guten Zeitpunkt zum Austreten. Ich konnte nur erahnen, was Robert gerade in der Toilette machen würde und welche Gerüche seine Übelkeit mit sich brachten. Und als nächstes sollte ich nun den kleinen Raum ohne Fenster und ohne Raumspray betreten? Keine gute Idee, aber meine Blase sagte mir etwas anderes. Ich kam nicht drum herum. Bis der junge Mann die Tür öffnete, konnte ich mich seelisch und moralisch auf das Bevorstehende vorbereiten, was mich gleich erwarten würde. Warum hatte ich ihn nur vorgelassen? Ich hätte ja schon viel eher auf die Idee kommen können! Aber nein, da muss ich erst warten, bis es meinem Sitznachbar schlecht wird und dann ihm auch noch den Vortritt lassen! Augen zu und durch oder besser gesagt, tief Luft holen, eintreten und solange nicht mehr atmen, bis ich wieder auf dem Gang des Flugzeuges stand. Ja, das war eine gute Strategie. Nun musste ich nur noch geduldig warten, bis Robert die Örtlichkeiten verließ.
Von hier eröffnete sich eine ganz andere Perspektive des Flugzeuginnenraums und ich fühlte mich für einen kurzen Augenblick als Flugbegleiterin. Regelrecht wichtig, denn nicht nur ich erspähte alles und jeden, auch die Mitfliegenden nahmen mich ins Visier. Erwartungsvolle Aufmerksamkeit sprang mir entgegen. Was war nur mit ihnen los? Was habe ich getan, dass mich Einige so seltsam ansahen? Haben alle denn nichts Besseres zu tun? Kommt gerade nichts Interessantes im Fernsehen? Auch die Bordzeitung kann gelesen werden! Aber nein, anstatt unsere Flugroute auf dem Bildschirm zu verfolgen, verfolgten die Blicke der Passagiere mich. Verschämt schauten die Neugierigen zu Boden oder aus dem Fenster, als sich die entsprechenden Blicke trafen. Gut so, warum nicht gleich so!
Die Situation wurde von dem Klacken des Türschlosses der Bordtoilette unterbrochen. Der junge Mann kam kreidebleich heraus und schlich zurück zu seinem Sitzplatz. Nun war ich an der Reihe. Mittlerweile von Bauchkrämpfen geplagt, wünschte ich mir dennoch so sehr wie noch nie, nicht urinieren zu müssen. „Luft anhalten und durch“, sprach ich mir selbst zu und verrichtete schnellstmöglich mein Geschäft.
Dabei überlegte ich folgendes: Es ist immer wieder komisch, wenn man die vermeidliche Spülung eines Zugs oder Flugzeugs betätigt. Ein kalter Luftzug durchströmt den kleinen Raum. Kurz durchatmen. Seit Klein auf stellt sich für mich die Frage: „Wo geht das nun hin?“. Was machen diejenigen, die „es trifft“, im wahrsten Sinne des Wortes? Ein widerlicher und absurder Gedanke. Das soll gerade nicht mein Problem sein, ich bin ja hier oben. Noch einmal Glück gehabt. Daher empfiehlt sich beim Kaffeetrinken auf der Terrasse immer einen Sonnenschirm aufgespannt zu haben! Liebe Leser und Leserinnen, denken Sie beim nächsten Mal an mich, wenn Sie die Gabel in ein leckeres Stück Erdbeerkuchen spießen und sich über Ihnen ein Flugzeug hoch am Himmel befindet.
Zurück an meinem Platz konnte nun endlich Ruhe einkehren. Dabei schoss es mir plötzlich. Jetzt wurde mir bewusst, warum Robert und ich permanent beobachtet wurden. Unter Garantie dachten einige, dass der jüngere Mann neben mir, dem es so schlecht wurde und erneut seine Kotztüte in der Hand hielt, mein Freund sei und das ich bestimmt vor Sorge mit ihm Richtung Toilette gegangen war. Ja, so wird es sein. Tja, so ist das, wenn man als vermeidlicher Single verreist. Da wird einem gleich ein Partner zugewiesen. So schnell hatte ich noch nie einen Freund. Und so unbewusst, vor allem.
Die Landung in Tunesien gestaltete sich sehr turbulent. Es rüttelte und schüttelte nur so, als der Pilot die Maschine auf den Boden aufsetzte und obwohl wir bereits den Asphalt unter den Rädern hatten, dachte ich immer zu: „Hilfe, wir stürzen ab!“ Warum auch immer, mir war einfach nicht wohl. Ich hatte pitschpatschnasse Hände und kam vor lauter Aufregung und Nervosität kaum hinterher, auf meinem Kaugummi herum zu kauen. Dabei vergaß ich glatt, mein zweites Bonbon von der Stewardess zu lutschen.
Das Flugzeug wurde langsamer und kam nach wenigen Minuten endgültig zum Stehen. Einen kurzen Moment hielten alle inne. Wahrscheinlich prüften sie genauso wie ich, ob wir den Flug und die Landung überlebt hatten. Dann, wie aus dem Nichts heraus, fingen alle recht herzlich an, dem Piloten zu applaudieren und natürlich, dem Gruppenzwang sei Dank, klatschte ich ebenfalls fest in meine schweißgebadeten Hände. „Gott sei Dank ist alles gut gegangen! Wir leben noch! Danke Pilot. Danke, dass du uns am Leben gelassen hast.“ Oje, an den in einer Woche stattfindenden Heimflug wollte ich jetzt noch gar nicht denken.
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