In dem Krimihotel hatte jedes Zimmer ein anderes Thema und war somit individuell eingerichtet. Elin schloss die Tür vom Kommissar Maigret-Zimmer auf. Über dem Bett hing ein Bild des Eifelturms und auf der gegenüberliegenden Wand war ein Zitat des Schauspielers Jean Gabin, der den Kommissar Maigret in den Filmen dargestellt hatte, geschrieben: „Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden ...“.
Elin ließ sich auf das frisch bezogene Bett plumpsen. Endlich war sie ungestört, um über diesen Zettel in Ruhe nachzudenken zu können. War das eine Frauenhandschrift? Und wessen Telefonnummer war das? An der Vorwahl erkannte Elin, dass es sich hierbei um eine Mobilfunknummer handelte. Sollte sie jetzt dort anrufen?, fragte sie sich.
Bernd kam ins Zimmer, schnell steckte sie den Zettel wieder in ihr Leseexemplar.
„Seit wann interessierst du dich für Reisen nach Skandinavien? Wir könnten auch noch einmal nach Island fahren, wenn du verreisen möchtest“, fragte Elinborg ihren Mann.
Sie waren auf der Heimfahrt. Bernd saß am Steuer des Audis und brauste die Landstraße entlang.
„In Island war ich aber schon mehrmals. Außerdem ist es da kalt“, erwiderte er.
„Ach, und in Skandinavien ist es nicht kalt?“
Bernd hupte und überholte einen alten VW Käfer.
„Ich interessiere mich für Skandinavien, weil ich Frau Lundgren kennengelernt habe. Sie ist eine geschäftstüchtige Frau und hat sogar ihr eigenes Reisebüro. Die Schiffsreise klingt interessant.“
„Ich habe aber keine Lust so eine Schiffsreise zu machen. Außerdem habe ich keine Zeit, weil ich im Juli nach Berlin muss“, erwiderte Elinborg.
Bernd stöhnte: „Kommissar Krassek.“
„Ja, genau, wegen Kommissar Krassek.“
„Für Frau Lundgren ist das Schreiben nur ein Hobby. Ich würde es besser finden, wenn du die Krimischreiberei aufhören würdest. Dann könnten wir auch zusammen Urlaub machen. Meinetwegen können wir auch wieder nach Island fahren. Weshalb hast du denn Journalismus studiert? Um dann auf solchen Schreibworkshops Möchtegern-Schriftstellern das Schreiben beizubringen? Das ist doch total sinnlos.“
Elinborg versuchte ruhig darauf zu antworten: „Bernd, bitte fange jetzt nicht schon wieder damit an. Diese Diskussion haben wir schon tausend Mal geführt und ich habe dir auch schon tausend Mal gesagt, dass mir das Schreiben viel Spaß macht. Ich kann mir nichts Anderes vorstellen: Außerdem verdiene ich damit mein eigenes Geld, und dass auch nicht gerade wenig.“
Bernd brummte: „Wenn du wenigstens etwas Seriöses schreiben würdest. Zum Beispiel Artikel für eine Tageszeitung oder ein Wochenmagazin oder, wenn wir Kinder hätten und das Schreiben dein Hobby wäre, wie bei Frau Lundgren, dann …“
Elinborg unterbrach ihren Mann wütend: „Hör endlich mit dem `Hätten wir Kinder´-Argument auf. Das nervt!“
Sie verschränkte die Arme.
„Ja, aber nur, weil du …“, begann Bernd.
„Es reicht! Ich sage zu diesem Thema nichts mehr!“
Elin starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.
„Ganz wie du willst“, gab Bernd giftig zurück und drückte energisch auf die Hupe und überholte einen Traktor.
Kommissar Karol Krassek faltete seine Hände vor seinem etwas hervorstehenden Bauch zusammen, schloss die Augen. Zufrieden dachte er, dass der Mörder der kleinen Sophie nun endlich verurteilt war. Dann zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück .
Genussvoll zog er an der Zigarette. Gleich würde er in die Abendvorstellung ins Capitol gehen. Dort lief „Metropolis“ von Fritz Lang. Krassek, der polnische Wurzeln hatte, jedoch in Berlin 1887 geboren wurde, liebte die Filmkunst. Wöchentlich ging er ins Lichtspielhaus, da die Eintrittspreise bezahlbar waren und die Wochenschau lieferte vor dem Hauptfilm wichtige Informationen. Er freute sich auf den Abend und blies den Rauch in kleinen Wölkchen hinaus. Das Telefon läutete schrill.
„ Kommissar Karol Krassek“, meldete er sich mürrisch. In diesem Moment wusste er bereits, dass sein Vorhaben ins Lichtspielhaus gestorben war.
Kurz darauf fuhr er mit dem Automobil durch das abendliche Berlin. Je näher er dem Potsdamer Platz kam, umso mehr wurde die Nacht durch die großen Leuchtreklametafeln der Bars, Nachtclubs und Tanzcafés zum Tage. Er hielt vor dem Nachtclub Papillon de Nuit.
Im Inneren des Clubs herrschte eine ausgelassene Stimmung. Obgleich der Krieg schon einige Jahre her war, spürte Krassek sofort die Gier nach Leben, den Hunger nach Vergnügen. Das fanden die Menschen hier: Musik, Tanz, Alkohol, Zigaretten, Glücksspiel, Frauen, die mit ihren Reizen kokettierten.
An den kleinen runden Tischen saßen sie, tranken, rauchten, lachten. Musiker auf einer Bühne spielten eine lebhafte Melodie. Auf der Tanzfläche bewegten sich die Gäste dazu. Krassek kannte sich mit Filmen aus, aber nicht mit Tanz und Musik. Er vermutete jedoch, dass dieser Tanz, bei dem man mit den Armen ruderte und die Beine zu Xs und Os verdrehte, dieser neue Tanz war: Charleston.
Die Musik verstummte. Die Tänzer kehrten auf ihre Plätze zurück. Nun trat eine Frau zu den Musikern auf die Bühne. Ihr langes rotblondes Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt, das schwarze Kleid mit den Fransen und den silbernen Ornamenten schmiegte sich an ihre zierliche Figur.
Die Scheinwerfer strahlten auf diese Frau, die vor einem Mikrophon stand. Die Musik spielte die ersten Takte und die Sängerin begann zu singen. Im Publikum wurde es still, alle lauschten dem Gesang. Auch Karol Krassek hörte gebannt zu, denn ihre Stimme war wie ein Herbststurm, kraftvoll und wild.
Für die Dauer des Liedes vergaß Krassek, weshalb er in diesen Nachtclub gekommen war. Dann räusperte sich ein Polizist neben ihm: „Herr Kommissar. Endlich sind Sie da. Bitte kommen Sie mit.“
Krassek folgte dem Polizisten durch einen schweren roten Vorhang neben der Bar, ging ihm einen schmalen Flur bis zu einem Büroraum hinterher. Dort saß der Nachtclubbesitzer Wilhelm Pelz in einem Sessel, den Kopf auf die Brust gesengt. In der rechen Schläfe war ein Loch.
Krassek trat zu dem toten Mann und stellte fest: „Der Mann ist aus nächster Nähe erschossen worden. Hat niemand den Schuss gehört?“
Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Wir müssen sämtliche Personen, die sich seit heute Abend im Club befinden, befragen“, befahl der Kommissar. „Rufen Sie Verstärkung.“
Mittlerweile war es Ende April geworden, als die Autorin endlich die nötige Zeit und Ruhe, um die Telefonnummer auf dem Zettel anzurufen. Sie ging mit ihrem Handy in ihr Arbeitszimmer. Oskar schlüpfte gerade noch durch den Türspalt, bevor sie die Tür schloss. Elin setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl, was Oskar zum Anlass nahm auf ihren Schoss zu springen. Sie wählte die Nummer und während es am anderen Ende läutete, streichelte sie den Kater. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal. Sie wollte schon auflegen, als sich endlich jemand meldete.
„Hallo!“
„Äh, hallo! Mein Name ist Elinborg Steinhausen.“
„Frau Steinhausen. Schön, dass sie anrufen. Wie geht es Ihnen?“, hörte sie eine fröhliche Männerstimme.
„Wer ist denn da?“, fragte sie skeptisch.
„Lorenz Berringer.“
Sie lachte: „Ach, dann haben sie mir den Zettel in mein Buch gelegt.“
„Ja. Das war ich“, bestätigte er. „Wie geht es Ihnen?“
„Gut. Ich war am Wochenende als Beraterin bei einem Schreibworkshop in Deutschlands Krimihauptstadt“, erzählte Elinborg.
„Deutschlands Krimihauptstadt? Welche Stadt ist das denn?“
„Hillesheim. Der Ort ist in der Vulkaneifel.“
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