Andreas C. Habicht
Vater unser, lass uns glücklich sein.
Roman
Originalausgabe
Texte Copyright © 2022 by Andreas C. Habicht
Umschlaggestaltung © 2022 by Andreas C. Habicht
Verlag:
Andreas C. Habicht
Schaeferstrasse 9
44623 Herne
buero@dr-habicht.de
Vertrieb:
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
In Dankbarkeit an Susanne und Jonathan
„Du darfst niemandem vertrauen, nicht einmal deinem Vater.“ Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen: “Komm spring, hab keine Angst”, hatte er gesagt und seine Arme weit geöffnet. Er sah zu mir hoch, wie ich dasaß auf dem alten Kirschbaum, nachdem ich einige dunkle Kirschen gepflückt und gegessen hatte.
“Bist du sicher Papa?”, hatte ich ihn gefragt. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Meine Beine baumelten in der Luft. Mit beiden Hände hielt ich mich an einem Ast oberhalb meines Kopfes fest. Ich hatte Angst vor dem Sprung.
“Los mein Junge, spring.”
“Ich habe Angst.”
“Komm, ich fang dich auf, dass habe ich doch gesagt.”
Ich zögert noch kurz, dann sprang ich. Da waren keine Arme, die mich auffingen. Ich stürzte auf den Boden. Mein Vater war einen Schritt zurück getreten und ließ mich auf den hohen Rasen fallen. Mit den Händen versuchte ich den Aufprall in letzter Sekunde aufzufangen, aber meine Reflexe kamen zu spät. Ich schlug zuerst mit den Knien und dann mit dem Kinn auf. Bevor ich realisieren konnte, was geschehen war, fing ich an zu weinen. Um mich herum drehte sich alles. Der Aufprall mit dem Gesicht hatte mir fast das Bewusstsein genommen. Ich schrie meinen Vater an, ich weiß nicht was, aber es war ein Schrei der grenzenlosen Wut. Ich kann mich nicht an alles erinnern, was dann geschah, aber ich werde diesen Satz niemals vergessen: “Vertraue niemandem, nicht einmal deinem Vater. Ich hoffe, es war dir eine Lehre.”
Als Jugendlicher habe ich eine Zeit lang daran geglaubt, es sei unabsichtlich geschehen. Vielleicht hatte er Alkohol getrunken und einen bösen Scherz machen wollen, ohne über die Konsequenz nachgedacht zu haben. Die bittere Wahrheit zu akzeptieren tat unendlich weh.
TEIL 1
Hendrik
KAPITEL 1 - Im Visier
Ich richtete mein Gewehr auf einen Punkt auf der anderen Seite der Lichtung. Mehr als meinen Atem hörte ich nicht. Gleichmäßig und ruhig. Erstaunlich ruhig.
Stille, nur ganz leise. Dann entfernt im Wald ein Vogelgeräusch. Die ersten Sonnenstrahlen schienen über die jungen Tannen auf den Boden der Waldlichtung vor mir. Dieser Tag und seine unweigerlichen Folgen nach meinem Schuss würden grausam werden. Doch der innere Drang war mächtig. Übermächtig!
Im Fadenkreuz sah ich seine linke Körperseite, direkt den Punkt, an dem sich das Herz befand. Der Punkt, den ich auch beim Erschießen des Wilds anvisieren muss. Ein Schuss und er wäre erlegt. Wie ein Tier, das nicht leiden sollte.
Der Punkt bewegte sich minimal. Ich hatte das Gewehr wieder ausgerichtet. Wenn ich jetzt abdrücke, wäre er sofort tot. Mein Gewehr beherrsche ich. Diese Entfernung, dieses Licht und zu wissen, er würde still halten. Nicht wie ein Tier, das auf der Hut war. Er ist ahnungslos. Ein gutes Gefühl zu wissen, ich habe es in der Hand. Ich kann bestimmen wie alles weiter gehen wird mit diesem Untier.
Den Zeigefinger am Abzug und mein linkes zugedrücktes Auge fühlte ich nicht. Ich war beherrscht von dem Gedanken, dieses Leben zu beenden. Gedanken jagten mich. Einfach so! So wie er Dinge einfach so tat. Jagdunfälle passieren. In meiner Naivität konnte ich denken, niemand würde behaupte, ich wäre dazu in der Lage. Niemals würde der Verdacht der absichtlichen Tat auf mich fallen, so weit weg war ich von der Realität. So weit war ich nicht mehr ich selbst. Jeglichen klaren Gedankens beraubt.
Er hatte sich einen Platz hinter einem Stapel alter Holzstämme gesucht. Es gab in seinem Revier wenige Hochsitze, weil er nicht gerne kletterte. Deshalb hatte er in seiner Pacht mehrere dieser Stellen mit alten Stämmen eingerichtet. Von diesem Platz übersah er die Lichtung und die Furt. Die Flachstelle im Bach, die viele Tiere als Weg nutzten, war ein guter Ort. Vielleicht waren wir heute aber schon zu spät an dieser Stelle und würden hier heute kein Wild mehr zu sehen bekommen.
Er duckte sich nicht. Er stand aufrecht, groß, schlank, in seiner gesamten imposanten Größe. Mit dem Fernglas suchte er den Waldrand ab. Sein Gewehr sah ich nicht. Sein Gesicht war mir abgewandt. Er hatte nicht einmal zu mir herüber gesehen, obwohl er wusste, ich stand hier. Die anderen beiden Jäger waren auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung tiefer in den Wald gegangen.
Die ersten niedrig in den Wald fallenden Sonnenstrahlen erhellten die Stelle, an der er sich befand. Er hatte sich etwas in meine Richtung gedreht. Zartes Licht der aufgehenden Sonne fiel auf die Schulter seiner dunkelgrünen Barborjacke. Das Steiner Fernglas hielt er mit beiden Händen hoch an der Brust. Unter dem streng zurückgekämmten Haar war die linke Gesichtshälfte deutlich zu erkennen. Wenn er sich jetzt umdrehen würde, könnte er mich sehen. Mein Gewehr in seine Richtung. Was würde er denken? Was würde passieren? Würde er herüber sehen und vermuten, ich beobachte ihn durch das Zielfernrohr. In diesem Moment hatte ich keine Angst mit ihm ins Gericht zu gehen und ihn zu fragen: „Wem aus unserer Familie würdest du fehlen? Was glaubst du? Ich bin nicht der einzige, der dich hasst.“
Er würde antworten: „Du sprichst von Hass? Mich hasst niemand. Viele haben Angst, so wie du. Deshalb drückst du auch nicht ab! Du nicht und auch sonst niemand. Aus Angst handelt kein Mensch vernünftig. Niemand traut sich etwas. Niemand von euch hat den Mumm.“
Ich spürte meinen Finger am Abzug. Zwei Atemzüge lang und ich war wieder mit meinen Gedanken bei seinem Tod.
Die Geräusche der Vögel und das leise Rauschen in den Blättern kehrten zurück in mein Bewusstsein. Die beiden Jagdfreunde waren bereits weiter gegangen, ich sah nur ihn. Er nahm sein Gewehr und fixierte einen Punkt auf der anderen Seite der Furt. Ich konnte nicht erkennen, was er sah. Ich hatte ihn im Visier. Die Vorstellung, es zu tun, war einfach. Es tatsächlich zu tun, nicht. Die Macht, es wirklich zu tun, elektrisierte mich. Der Gedanke daran, seine Herrschsucht und Boshaftigkeit nicht mehr ertragen zu müssen, keine Angst mehr davor zu haben, mich rechtfertigen zu müssen, ließ mich innerlich erschauern. Der Wunsch, allein entscheiden zu können, ohne an die Fehler zu denken, die er zwangsläufig in meinem Tun immer fand, war übergroß. Würde es mein Handeln lenken?
In der ersten Zeit war es nur seine entmündigende und bevormundende Fürsorge gewesen. Dann war es immer mehr zur Machtbesessenheit geworden, die sein Verhalten bestimmte. Er litt an Entzugserscheinungen der Macht, wenn er nicht über alles und jeden bestimmen konnte. Er hatte sich zu einem boshaften und unberechenbaren Patriarchen entwickelt und setzte jedes Mittel ein, um seine alleinige Herrschaft zu sichern.
Seine Statur im Visier, keine Regung bei ihm. Ich hatte keine Angst mehr. Mein Verstand kehrte zurück und ich sah ohne Wut auf ihn. Was wäre, wenn nicht alle an einen Unfall glauben würden? Zu viele Menschen aus unserem privaten und geschäftlichen Umfeld vermuteten zu Recht, ich würde ihn hassen. Es geht um mein Leben und nicht um seins. Ich muss alles verändern. Ich muss weg von hier und weg von ihm. Ich muss meinen eigenen Traum leben und nicht seinen Wahnsinn ertragen und ihm folgen! Ich brauche nur meinen eigenen Weg, um wieder glücklich zu werden. Diesen Weg muss ich suchen und ihn dann gehen. Es war mein Kampf um Anerkennung und gleichzeitig um Freiheit.
Bis zu dem Moment als ich auf ihn gezielt habe, war er allein verantwortlich, dass ich mich so sehr nach beidem sehnte und nichts tat, um es zu finden. Ich habe und hatte immer die Wahl. Jeder kann gegen.
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