Kein Leben beenden, nur ein neues beginnen. Nicht seinen Tod gegen mein Leben in Freiheit und Würde eintauschen. Diese Erkenntnis traf mich tief, ich nahm ihn aus dem Visier. Ich sicherte das Gewehr, drehte mich um und sah nicht mehr zu ihm zurück. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich spürte den Schweiß auf der Brust und unter meinem Halstuch als ich in Gedanken versunken zurück in Richtung Jagdhütte und zu meinem Auto ging.
Meine Erinnerungen kreisten um die erste gemeinsame Jagd mit meinem Vater. Ich war zehn oder elf Jahre alt und hatte mich sehr auf diesen Tag gefreut. Schon die Tage vor der Jagd war ich aufgeregt und ängstlich. Vorher hatte ich ihn mit unterschiedlichen Fragen zum Ablauf der Jagd gelöchert. Aber mein Vater hatte immer nur geschmunzelt und gesagt: “Warte es einfach ab. Das Gefühl ist unbeschreiblich! Du bist der Herr über Leben und Tod!“ Himmel, ich war damals noch ein Kind.
Am Morgen der Jagd nieselte es leicht und der Wald erschien mir grau und düster. Die Atmosphäre drückte meine Stimmung. Ich zitterte seitdem wir aus dem Wagen an unserer Jagdhütte ausgestiegen waren. Wir liefen lange durch den düsteren Wald bis wir vor einer seiner Schanzen standen. Er hatte diese Plätze, die der Jagdaufseher an vielen Stellen errichtet hatte, so genannt. Wir warteten. Er flüsterte immer wieder und erklärte, was passieren würde, wenn wir ein Tier erspähen. Ich durfte nicht sprechen. „Du wartest einfach und bist leise.“ Später fiel ein Schuss und ein Reh lag tot auf dem Waldboden. Wir standen vor dem toten Tier. Aus einer klaffenden Wunde unter dem Hals sickerte Blut. Ich hatte mit dem aufsteigenden Ekel zu kämpfen. Ich werde diesen Augenblick niemals vergessen. Es war nicht nur das tote Tier. Mein Vater sagte: „Du hast jetzt gesehen wie man tötet, möchtest du das auch einmal tun?“ Mein Vater bemerkte nicht die Tränen in meinen Augen.
Manche Erinnerungen sind so lebendig, als wären die Dinge gestern geschehen. Viele Ereignisse an Vater haben ihn zu meinem Feind im Leben gemacht. Warum habe ich nicht einmal gesagt, ich brauche dich nicht und du brauchst mich auch nicht? Viele Verletzungen hätte es nicht gegeben. Wir brauchten einander nicht und fühlten uns doch gleichzeitig abhängig voneinander. Bei mir war es so. Nur weil er mein Vater und ich sein Sohn war, dachten wir, wir gehörten zusammen. Großer Irrtum, großer Fehler, viel Lebenszeit verschenkt. Ich hasste ihn, er nahm mir meine Freiheit und manipulierte mich in allem. Ich zeichnete mir lange ein Bild von ihm, das ich jetzt erst vollends verstehe. Ganz früher hielt ich meinen Vater für streng, diszipliniert, konsequent und ehrgeizig. Jetzt weiß ich, er ist besessen von der Macht über sein Leben und über das derjenigen, die er für diese Macht braucht. Ich schluckte hart bei diesen Gedanken, die mir ungefiltert durch den Kopf schossen. Schon oftmals hatte ich über meinen Vater und seinen Einfluss auf mein Leben nachgedacht, aber hier im Licht des heraufziehenden Tages beendete ich das Leben mit ihm, ohne ihn zu töten. Aber was nach diesem Morgen geschah, war schlimmer als alles davor.
Bewunderung für ihn zu empfinden oder ihn gar als Vorbild zu sehen, war sein größter Wunsch. Die Wut darüber, diese Bewunderung nie bekommen zu haben, ließ ihn zu dem werden, was er heute war. Gerne hätte ich ihn dort tot auf dem Boden liegen gesehen. Einfach tot, Jagdunfall, Herzinfarkt, egal. Wer nicht geliebt wird, wird zum Tyrann, oder ist es umgekehrt?
Als ich begann diese Geschichte aufzuschreiben, habe ich gemerkt, wie schwer es ist, ihn zu beschreiben. Meinen Vater als Despoten zu bezeichnen wäre zu wenig. Seiner cholerischen Art und dem diktatorischen Ton, mit dem er die Aufgaben an seine Angestellten weitergibt und seine Familie beherrscht, verdankt er seine Macht. Ganz gleich wie man ihn bezeichnet, er würde behaupten, alles im Leben erreicht zu haben, weil er so ist wie er ist. Sein einziges Bestreben im Leben ist, das Geschehen an sich zu reißen und über seine Umgebung zu herrschen. Um an sein Ziel zu kommen betrügt, lügt und schauspielert er, dabei verletzt er andere ohne Rücksicht auf Verluste. Aber das muss alles so sein, um Erfolg zu haben! Er überträgt diese Erfahrung auf alle, die etwas im Leben erreichen wollen. Viele Menschen machten die Erfahrung, wer mit dem wahren Ich meines Vaters in Berührung kam, der sah keine Tugenden, keine Kraft im guten Sinne und wandte sich ab von ihm.
Respekt ihm gegenüber hatte sich bei uns allen in Angst und Sorge gewandelt. Bei meiner Mutter war es die Sorge um mich, meine Schwester und die Angst vor der Zukunft mit ihm. Ich spürte das, es bedurfte hierfür keine Erklärung oder Worte von ihr. Sie hatte geweint und gesagt: „Unser Leben gleicht einem Haus aus Glas. Alle Räume in dem Haus sind vollständig aus Glas und Vorhänge zum Schutz gibt es nicht. Alles ist durchsichtig und einsehbar und wir befinden uns wehrlos in diesem Glaskasten. Es gibt keinen Beschützer, aber einen der immer anwesend ist und uns sagt, was wir machen sollen. Der vergibt Noten für unser Handeln. Die beste Note ist ein Ausreichend.“
„Ein Ausreichend, aber wofür? Warum nur ein Ausreichend, was mache ich verkehrt?“, hatte ich gefragt?
„Warum genüge ich seinen Ansprüchen nicht?“
Die Antworten blieben aus. Meine Mutter hatte geweint und ließ mich allein mit meinen Fragen zurück.
Ich schaute nach oben und suchte ein Stück des blauen Himmels über mir. Mein Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit war wie die Gier nach Sonne, Licht und Wärme. Als ob ich dies dort oben am Himmel finden könnte? Absurd, aber dennoch fühlte ich so, und ich spürte mich gestärkt als ein kleiner Raubvogel plötzlich in mein Sichtfeld flog und hoch über den Spitzen der Bäume seine Kreise zog.
Ohne mir Gedanken über den Weg zu machen, ging ich weiter durch den Wald. Ab wann habe ich bemerkt, dass jemand Anderes mir sagt, worin mein Glück und worin meine Träume zu bestehen haben? Und worin das Glück der ganzen Familie liegt? Wer hat mich mit einer Kette an dieses Glück gefesselt? Wie komme ich aus diesem Glashaus heraus und wie schaffe ich es, die Fesseln zu lösen und meinen eigenen Weg zu gehen? Ich muss es schaffen, sonst bleibe ich ein Gefangener der Zwänge und Fesseln. Warum gehe ich nicht einfach fort?
Holly hat diese Gefangenschaft schon früh empfunden, sie hatte Angst davor, weiter zusehen zu müssen, welche Macht und Bevormundung von unserem Vater ausgeht und hat frühzeitig das Haus mit den Glaszimmern verlassen. Sie hat es geschafft. Meine Mutter hat damals nicht versucht, meine Schwester aufzuhalten. Im Gegenteil. So weit ich mich erinnere, hat sie Holly darin bestärkt, ihren eigenen Weg auch gegen den Widerstand unseres Vaters zu gehen.
Mutter und ich merkten, was mit uns passiert, aber wir änderten bis zu diesem Tag nichts. Später sollte ich erfahren, dass dies in Blick auf Mutter ein Irrtum war.
Wir leben als ob wir mit Schlägen zum Gehorsam gezwungen werden. Warum ist er so mächtig über meine und unsere Gedanken geworden? Der Patriarch sorgte immer wieder für Ausgelassenheit bei seinen Untergebenen. Diese Ausgelassenheit ist aber nur gespielt, wir reagieren so wie er es sich wünscht. Wir funktionieren in seinem Sinn, ohne zu merken, wie es uns verändert hat. Wir sind Marionetten dieses Despoten. Die immer da gewesene Autorität meines Vaters rechtfertigt, wie sich die Dinge entwickelt haben. Aber nicht mehr für mich. Ich muss etwas verändern, wenn ich nicht zugrunde gehen will.
Holly, meine kleine, schöne Schwester. Ihr Fortgang hatte mich traurig gemacht. Ich fühlte mich damals von ihr im Stich gelassen. Ich war zwar der große Bruder, aber brauchte sie mehr als sie mich. Ich bewundere sie für ihre Konsequenz. An diesem Morgen war ich froh, dass sie diesen Schritt gewagt hat und frei war. Auch das war ein Irrtum.
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