Jetzt hier in meinem Auto, auf der Autobahn in Richtung Düsseldorf, wurde mir eines bewusst: So wie früher wird es nicht weiter gehen. Das heutige Geschehen ist der große Schritt raus aus dem einen Leben in ein anderes. Noch niemals zuvor war mir etwas so klar vor Augen wie das Wissen darum, dass sich mein Leben verändern wird! Gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht in die Zukunft schauen konnte und somit nicht ahnte, was auf Holly und mich zukam. Aber selbst wenn, ich hätte doch diesen Weg gehen müssen.
Ich kann rückblickend nicht beschreiben, warum ich mich trotz einiger wirklich beunruhigender Gedanken an eine ungewisse Zukunft so erleichtert fühlte. Ich hätte mir Sorge machen müssen. Schon alleine wegen der Niederlegung der Geschäftsführung in den verschiedenen Gesellschaften, in denen wir gemeinsam eingetragen waren. Ich sah aus dem Seitenfenster in die vorbei ziehende Landschaft und öffnete das Fenster für einen Moment. Die frische Luft tat wieder gut. Erste Zweifel wollten sich in meinem Kopf breit machen, ich aber wollte es nicht zulassen. Ich wollte nur den Augenblick genießen, in dem ich mich zu meiner Entscheidung beglückwünschte und mich unantastbar fühlte. So stark hatte ich mich seit meinem Wechsel in die Tochtergesellschaften nach Amsterdam nicht gefühlt. Endlich mein Leben spüren. Den Augenblick wollte ich auskosten, die Realität würde früh genug auf mich einstürmen.
Das Telefon schellte. Das iPhone steckte in der Halterung am Armaturenbrett meines BMW´s. Es war meine Mutter und ich wusste was jetzt kam. Die Realität war da!
„Hallo Mama, hat er dich schon angerufen?“ Ich versuchte meiner Stimme eine gespielte Gelassenheit zu geben.
„Guten Morgen, mein Junge, ja, dein Vater hat mich angerufen. Was ist passiert?“
Mutter versuchte ruhig zu bleiben. Was sie genau von Vater erfahren hatte, ließ sie mich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.
„Ich fahre nur nach Hause, und das passt ihm nicht.“ Mein Herz schlug heftig, ich dachte daran, was passiert war. Das würde mein Geheimnis bleiben.
„Was ist denn los, warum bist du einfach von da weg?“
„Ich bin da nicht so einfach weg. Es gibt eine Menge Gründe dafür.“
Ich konnte ihr unmöglich erzählen, dass ich in einem dunklen Moment darüber nachgedacht hatte abzudrücken. Ich hätte Mutter damit belastet und das nur, um mein eigenes Gewissen zu erleichtern. Das konnte ich meiner Mutter nicht antun.
„Sag mir doch, was passiert ist.“ Sie spürte, etwas Unausgesprochenes hing in der Luft.
„Mama, heute ist nichts passiert, wirklich nicht. Glaub es mir!“
Schweigen!
„Aber in den vergangenen Jahren dafür um so mehr. Das ist mir heute früh endgültig klar geworden und auch, was das für mich bedeutet.“
Ich wusste nicht, ob Mutter mich verstand.
„Es hat mit deinem Vater und dir zu tun. Ja?“
Die Sachlichkeit in der Stimme meiner Mutter irritierte mich.
„Ja, so ist es. Du weißt das doch.“
Ich versuchte meine Erregung zu kontrollieren.
„Hast du ihm das gesagt?“
Wie es innerlich in ihr aussah, gab sie nicht zu verstehen.
„Nein, das werde ich aber bald sehr deutlich und endgültig tun.“
Ich machte eine Pause, um meiner Stimme wieder Festigkeit zu verleihen. „Nach meiner Schwester, die für Vater eine Versagerin ist und ein Lotterleben in Amsterdam lebt, bin ich jetzt der nächste, der sich von dem Patriarchen befreit.“
„Damit wirst du viel Glas zerschlagen.“
Sie hatte Angst davor.
„Erinnerst du dich, was er damals zu deiner Tochter gesagt hat? Weißt du noch, wie er reagiert hat als Holly gegangen ist?“
Mutter schwieg. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr trotz allem immer schwer gefallen war sich gegen ihn zu stellen. Lieber schweigen als rebellieren! So hat sie es immer gemacht und wie es scheint, will sie diesen Weg weitergehen. Meine Mutter war nicht zur Kämpferin geboren.
Deshalb setzte ich nach: „Niemand wusste genau, was zwischen den beiden vorgefallen war. Und was tat mein Vater? Nichts! Sie war weg und er sagte kein Wort dazu. Ich glaube, er war froh darüber. Und so ungefähr wiederholt sich das jetzt mit mir. Er wird froh sein, wenn ich nicht mehr da bin. Dann ist sein größter Kritiker endlich fort. Ich werde Vater nie verstehen und ehrlich, jetzt will ich es auch nicht mehr!“
Meine Mutter sagte weiterhin nichts.
„Mama?“
„Ja, mein Junge.“ Mein Mutter weinte. Es zerriss mir das Herz. Warum hatte ich all das am Telefon gesagt, warum hatte ich damit nicht gewartet?
„Können wir uns später sehen, bitte. Ich komme nachher zu dir, bitte.“ Mutter flehte förmlich.
„Ja, Mama, ich bin auf dem weg nach Hause. Bitte sei nicht traurig. Ich muss etwas tun. Wenn ich nicht gehe, passiert etwas Schlimmes. Das spüre ich.“
Ich hatte meine Emotionen wieder unter Kontrolle.
„Und das wollen wir beide nicht, oder?“
„Bitte überstürze nichts, lass uns nachher reden.“
Mutter versuchte wie stets die Dinge runter zu spielen.
„Ja, das mache ich, versprochen. Wir sehen uns nachher. Ich muss gleich erst einmal unter die Dusche und etwas essen. Bis nachher. Mama, ich hab dich lieb.“
„Fahr vorsichtig mein Junge“, waren ihre letzten Worte. Ich drückte die rote Taste.
In Düsseldorf parkte ich meinen Wagen in der Tiefgarage, ging aber nicht sofort in meine Wohnung, sondern besorgte mir in einer Bäckerei fertig belegte Brötchen und zwei Stücke Mohnkuchen. Ich hatte Hunger und brauchte einen großen Kaffee. Am Eingang zu meinem Penthouse am Ende der Königsallee gegenüber vom Graf Adolf Platz, leerte ich zuerst den Briefkasten. Mit Einkauf und Post fuhr ich mit dem Fahrstuhl in die siebte Etage. Seit mehr als drei Jahren lebte ich hier in der Innenstadt. Als ich eingezogen war, hatte es lange Zeit nur die Einbauküche, mein Bett, einen Fernseher, und das Ankleidezimmer gegeben, sonst keine Möbel. Außer Wegwerfbesteck, einem Korkenzieher und einem Paket mit sechs Weingläser aus dem Supermarkt auch keine anderen Gegenstände in der Küche. Es hatte mehr als ein Jahr gedauert, bis ich wusste, ich würde hier bleiben wollen. Nach der Finanzkrise hatte ich drei Jahre in Amsterdam gelebt und dort die Finanzholding der Firma aufgebaut. Als ich zurück beordert wurde, weil mein Vater mich wieder in Düsseldorf haben wollte, wohnte ich zuerst in einem kleinen Bungalow in der Nähe der Villa meiner Eltern. Der Bungalow war das erste Wohnhaus unserer Familie gewesen. Ich war dort aufgewachsen. In dem Haus hielt ich es nur ein paar Wochen aus. Ich fühlte mich als würde ich immer noch bei den Eltern wohnen. Überall waren Erinnerungen. Vieles hatte dort mit meinem Vater zu tun. Er war immer anwesend. Ich empfand die Erinnerungen als eine Last. Mein Vater hatte oft gesagt: „Mein Junge, eines Tages wird dir alles gehören, dieses Haus, die Firma und was ich aufgebaut habe.“ Genau das wollte ich nie. Ich hatte mich lange gefügt. An diesem Tag endete es.
Ein Freund der Familie, Rechtsanwalt Andreas Weidlich, hatte mir aus steuerlichen Gründen geraten, diese sehr kostspielige Wohnung nicht privat zu kaufen, sondern eine Immobiliengesellschaft außerhalb Deutschlands dafür zu gründen. Mittlerweile lebte ich sehr gerne hier und genoss die Möglichkeiten der Stadt, die Restaurants und Bars. Ich traf mich mehrmals in der Woche mit Freunden und Stammgästen einiger Lokale ganz in der Nähe. Den Lebensstil einer Stadt hatte ich in Amsterdam lieben gelernt. Damals wohnte ich in einer Wohnung an der Prinsengracht, an einer der schönsten Stellen in Amsterdam. Meine Schwester hatte mich oft besucht und die Wohnung übernommen als ich zurück nach Düsseldorf ging.
Ich würde Düsseldorf auch vermissen. Aber meine Unabhängigkeit und meine Freiheit waren es wert mein Leben hier aufzugeben.
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