Nach dem Frühstück ging er unter die Dusche und zog sich im Schlafzimmer an. Sein Blick fiel auf eine schwarzweiß Porträtaufnahme von ihm selbst, die über dem Bett hing. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wann sie aufgenommen wurde. Es war eines der ersten Fotos, die für seine Sedcard entstanden war. Lorenz Berringer war zwar kein Supermodel, wie Sean O´Pry, der eine Millionen Euro im Jahr verdiente, doch mit einer Größe von 1,84 Meter, der athletischen Figur, der geraden Nase und dem stets gepflegten Dreitagebart war er doch ein international gefragtes Männermodel.
Wie üblich stand samstagvormittags Sport in seinem Terminkalender. Da er kein Auto besaß, war er viel mit dem Fahrrad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. So radelte er zum Fitnessstudio am Europaplatz, dabei kam er auch an der Buchhandlung Weyhe vorbei. Im Schaufenster hing ein großes Plakat. Darauf stand, dass am morgigen Sonntag um 11 Uhr eine Matinée mit der bekannten Krimiautorin Elin Steinhausen geben würde. Lorenz kannte die Romane um Kommissar Krassek, denn er las oft und gerne spannende Romane. Gelegenheiten zum Lesen gab es für ihn viele, in der Bahn, im Flugzeug und in der Wartezeit bei den Castings.
Spontan hielt das Männermodel an und betrat die Buchhandlung.
„Ich habe zwei Eintrittskarten für eine Lesung gekauft. Sie findet morgen in der Buchhandlung Weyhe statt. Magst du mitkommen?“, fragte Lorenz seinen Freund Cornelius Ackermann im Fitnessstudio. Der Mann mit dem blonden Bürstenhaarschnitt und dem breiten Rücken, der von allen nur Conny genannt wurde, wiederholte skeptisch: „Eine Lesung? Am Sonntag?“
Die Männer standen auf zwei nebeneinander stehenden Crosstrainern und wärmten sich auf.
„Ja, die Autorin ist wirklich gut. Sie liest aus ihrem neusten Krimi.“
„Nee. Ich bin morgen im Stadion.“
„Schade“, murmelte Lorenz. Wem sollte er jetzt die zweite Karte geben?
Als die Männer zu den Rudermaschinen wechselten, fiel Lorenz eine blonde Mittzwanzigerin ins Auge, die sich gerade auf den Hocker der Schulterpresse setzte. Sie hieß Mandy, erinnerte er sich. Sie bemerkte seinen Blick, lächelte. Lorenz ruderte noch einige Male, stand dann auf und ging zu ihr hinüber. Conny sah ihm interessiert hinterher und beobachtete ihr Gespräch aus der Ferne.
„Warum bist du zu der Blonden gegangen? Was willst du von ihr?“, fragte Conny neugierig als Lorenz wieder zu der Rudermaschine zurückkehrte.
„Ich habe sie gefragt, ob sie morgen mit mir zu der Lesung möchte.“
„Und?“
Lorenz zeigte mit dem Daumen nach oben.
„Mensch! So auf Literatur zu machen, ist eine echt gute Masche von dir“, meinte Conny bewundernd.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Gib doch zu, dass du die Blonde ins Bett haben willst.“
Lorenz verdrehte die Augen. „Du denkst wohl immer nur an das eine, oder?“
Conny grinste breit. „Kann schon sein.“
Ihr Training beendeten die Männer nach einer Stunde mit fünfzehn Minuten Cardio, um anschließend in die Sauna zu gehen. Nur mit einem Handtuch bekleidet, betraten sie die Sauna, legten das Handtuch ab und setzten sich auf die Holzbank.
Die Wärme tat gut. Lorenz fuhr sich gedankenverloren mit der flachen Hand über seinen muskulösen Oberkörper, spannte ihn dabei gerade so stark an, dass sich die Rillen zwischen den Muskelpacks so vertieften, dass die Finger leicht darin hängen blieben. Conny beobachtete ihn dabei und kommentierte verächtlich: „Wir wissen alle wie schön du bist.“
Lorenz lächelte etwas gequält, nahm sein Handtuch und sagte: „Ich gehe schon duschen. Wir treffen uns draußen.“
Das Wasser war nach der Wärme in der Sauna erfrischend. Lorenz cremte sich in der Umkleidekabine sorgfältig mit Bodylotion ein, dabei entdeckte er an seinem Unterarm einen blauen Fleck. Woher habe ich den denn?, fragte er sich verärgert. Er konnte sich als Model keine blauen Flecken leisten.
Wie jeden Samstag ging Lorenz nach dem Fitnessstudio noch mit seinem Freund in ein italienisches Self-Service-Restaurant. Dort aßen sie Salat mit Blattspinat und Ziegenkäse und eine Pizza mit Fleischbällchen und Peperoni. Die Pizza war so groß wie ein Wagenrad. Conny machte sich gleich mit großem Appetit über sie her.
„Conny, du kannst noch so viel trainieren, deine Figur ändert sich nicht, wenn du danach so eine riesige Pizza isst“, urteilte das Männermodel. Er befürchtete nämlich, dass ihm jeden Moment die Hemdknöpfe seines Freundes entgegenspringen würden.
Mit vollem Mund erwiderte Conny: „Ich gönne mir eben was! Du isst ja immer nur Salat. Bald wirst du ein Kaninchen sein.“ Er musste so sehr über seinen eigenen Witz lachen, dass er sich dabei verschluckte. Lorenz klopfte seinem Freund auf den Rücken. Lachen konnte er über den Witz allerdings nicht.
Elinborg Steinhausen zog ein blaues Kleid an. Um ihren Hals wickelte sie locker ein farblich passendes Tuch. Ihr langes haselnussbraunes Haar flocht sie zu einem Zopf. Dann nahm sie ihre Tasche mit ihrem Leseexemplar und ging zur Garage. Der schwarze Audi A8 ihres Mannes parkte neben ihrem roten Renault Twingo. Bernd war erst nach Mitternacht vom Golfclub heimgekommen. Jetzt lag er noch schnarchend und nach Alkohol und Zigaretten riechend im Bett. Sie hatte ihm an der Kaffeemaschine ein Post-it hinterlassen: „Ich bin bei einer Matinée. Bitte rufe mich nicht, wie beim letzten Mal, wieder an. Gegen 15 Uhr werde ich wohl zurück. Elin.“
Eine halbe Stunde vor Beginn der Matineé betrat die Autorin die Buchhandlung Weyhe. Wie viele kleine Buchhandlungen war sie vollgestopft mit Büchern. Ihre Kriminalromane lagen stapelweise an der Kasse aus. Auf einem extra aufgestellten Tischchen war ein Frühstücksbuffet aufgebaut. Herr Weyhe begrüßte sie und erklärte, dass die Matinée aufgrund des warmen Wetters draußen stattfinden würde. Auf der langgezogenen Terrasse stand ein Tisch. Dahinter sollte die Autorin Platz nehmen. An der Anzahl der Stühle schlussfolgerte Elinborg, dass das Publikum überschaubar werden würde. Sie atmete erleichtert aus, denn sie war jedes Mal nervös, vor allem vor großem Publikum.
Langsam trafen die ersten Gäste ein. Die meisten waren offensichtlich Stammkunden, denn Herr Weyhe begrüßte viele mit ihrem Namen.
Nachdem alle Plätze belegt waren, Herr Weyhe jedem Gast eine Tasse Kaffee oder Tee angeboten hatte, bat der Buchhändler um Aufmerksamkeit.
„Liebe Gäste, willkommen zu unserer heutigen Matinée! Ich begrüße besonders herzlich Frau Elin Steinhausen.“
Während Herr Weyhe sprach, musterte Elin das gemischte Publikum. In der ersten Reihe saß ein älteres Ehepaar mit einem noch älter aussehenden Dackel und eine junge Frau in einem grünen Kleid, dessen Dekolleté nach ihrem Geschmack zu tief ausgeschnitten war. Gleich dahinter saß ein Mann, der aussah, als ob er den Preis für den sexiest Man alive gewonnen hätte. Die blonde Frau neben ihm himmelte ihn an, was nicht zu übersehen war. Dann erkannte die Autorin noch einen Mann mit zottligem roten Bart, der Atomkraftgegner zu sein schien, denn auf seinem T-Shirt stand „Tihange abschalten!“
Der Buchhändler fuhr fort: „Frau Steinhausen wird nun aus ihrem neusten Krimi `Endstation Alexanderplatz´ lesen. Wir sind alle gespannt, wie Kommissar Krassek den Fall wieder lösen wird.“
Das Publikum applaudierte. Elinborg atmete einmal tief durch und begann:
„Wie Sie vielleicht wissen, ermittelt Kommissar Krassek im Berlin der 20er-Jahre. Es waren die `Goldenen Zwanziger´ ...“ Nach diesen einleitenden Worten zu dem historischen Hintergrund schlug sie das Buch auf. Es war ihr eigenes Leseexemplar, das mit Eselsohren und zahlreichen farbigen Post-it-Zetteln markiert war.
Vorlesen war nicht einfach. Elinborg Steinhausen hatte deswegen sogar mehrmals einen Schauspieler als Lehrer engagiert, der mit ihr übte. Eine Lesung sollte die Zuhörer fesseln, Interesse am Buch wecken und zum Kauf animieren. Daher betonte sie die wörtliche Rede und machte Pausen, um die Spannung aufrecht zu halten.
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