»Verstehe.« Als wohl einzige Person auf der Welt log einen Seraphiel mit diesen Worten nicht an. »Aber ich bin mir sicher, dass Gott weiß, was er tut. Er würde dir diesen Titel und diese Aufgaben nicht anbieten, wenn er nicht wüsste, dass du mit ihnen zurechtkommst. Er setzt sein Vertrauen in dich.«
›Er setzt sein Vertrauen in mich‹, dachte Metatron. Der Satz fühlte sich auf so vielen Ebenen falsch an, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. ›Er… Das ist nicht richtig, nicht so. Gott ist nicht männlich für mich.‹
Seraphiels Augen blinzelten. Er bekam die anhaltende Verwirrung wohl mit. »Aber abgesehen davon hast du dich dein Leben lang auf den Schwur vorbereitet. Und ich kenne dich Metatron, ich weiß, was du kannst. Vertrau dir ruhig selbst.«
»Also denkst du, dass ich schwören soll?«
Seraphiel gab lange keine Antwort. Er saß regungslos auf dem Sofa, schaute zu Boden und schien ernsthaft überlegen zu müssen, bis ihm etwas einfiel. Schließlich seufzte er und gab Metatron damit noch mehr das Gefühl, ihm auf die Nerven zu gehen.
»Du dienst Gott bereits jetzt schon«, erklärte der ältere Seraph. »Wenn du volljährig wirst, dann wirst du das auch offiziell tun, und in dem Sinne ist der Schwur nichts weiter als eine Formsache. Das Einzige, was sich ändert, ist dein Titel und deine Wirkung auf den Himmel. Alle Engel hätten dann eine Verbindung zu Gott und die Sicherheit, dass die Seraphim nach seinem Willen handeln. Es hätte seine Vorteile.«
›Ich sollte schwören‹, dachte Metatron und fühlte sich schlecht, weil er sich deswegen schlecht fühlte. Er sollte es als eine Ehre betrachten, und Seraphiel fand das offensichtlich auch, das machte er gerade mehr als deutlich. Aber wenn er auch nur einen Moment lang aufhörte, sich das einreden zu wollen, dann blieb nur noch der zusehends verzweifelte Wunsch, jemand anders möge die Wahl für ihn treffen.
»Was denkt Sandalphon?«
Seines Wissens nach hatte sein Bruder sich schon entschieden, als Gott noch nicht ganz fertig gewesen war, ihnen den Sachverhalt zu erklären. »Wir sprechen nicht darüber.«
Seraphiel hob eine Augenbraue. »Nicht?«
»Wir haben alles Wichtige diskutiert.« Metatron schwieg kurz. Gerade würde das nur ein weiteres Fass aufmachen, mit dessen Inhalt er sich nicht auseinandersetzen wollte. »Am Ende ist es unsere persönliche Entscheidung.«
»Das ist richtig, aber es geht euch ja beide an.«
Es war nicht so, als hätten sie es nicht versucht. Aber schon nach kurzer Zeit regte sich Sandalphon auf und behauptete, Gottes Konditionen würden sie mehr zu Dienern als zu Herrschern machen. Metatron hatte geschwiegen und seinen Bruder reden lassen, konnte die Argumente auf der einen Seite zwar nachvollziehen, doch auf der anderen Seite schien es doch seine Pflicht zu sein, diesen Schwur zu leisten. Deswegen war er geschaffen geworden.
Seraphiel schaute ihn unterdessen prüfend aus zu vielen Augen an. »Dich beschäftigt mehr als nur der Schwur an sich, richtig?«
›Ja, natürlich, aber wie soll ich das erklären? Wie soll ich dir verständlich machen, dass ich nicht weiß, wer ich bin, weil ich nicht weiß, wer Gott für mich ist? Die Frage stellt sich doch für niemanden.‹ Noch weigerte sich Metatron, sich selbst als kaputt zu bezeichnen, aber langsam gingen ihm die Gegenargumente dafür aus. In diesem Moment fühlte sich alles an ihm grundlegend falsch an.
Er schüttelte den Kopf und schluckte den ganzen Wust zusammen mit seinem Tee herunter. Vielleicht ein anderes Mal, wenn er mehr wusste. »Es ist nur so eine wichtige Sache und ich will sie richtig machen.«
Ob Seraphiel ihm glaubte, blieb fraglich, aber immerhin schien er die Antwort zu akzeptieren. »Du kannst wiederkommen und mit mir reden, wenn du willst«, sagte er. »Dafür nehme ich mir die Zeit. Ich will, dass du dich guten Gewissens entscheiden kannst.«
Es kostete Metatron alle Beherrschung, um nicht zu laut lachen. Ihm war längst bewusst, dass das nie im Leben so einfach werden würde. Immerhin konnte er sich jetzt noch einreden, dass der Schwur über ein Jahr weit weg war und ihm noch reichlich Zeit blieb. Noch bestand die Chance, dass sich alle Probleme von alleine lösten.
›Ich will nur wissen, wer ich sein soll‹, dachte er. ›Wie kann das zu viel verlangt sein?‹
18
Dorian
11. November
Hölle
Stunden vergingen, ohne dass jemand Dorian anrührte. Sie hatten ihn gefesselt, an den Boden gekettet, und das Metall mit einer Energie infundiert, die ihn daran hinderte, auf die Erde zu flüchten. Mit einem ähnlichen Mechanismus hielt Gott Luzifer in der Hölle fest, soweit er wusste.
›Luzifer‹, dachte Dorian. Das Gesicht seines Meisters erschien vor seinem geistigen Auge. ›Ich will nach Hause. Bitte, ich tue alles, ich… Nimm mir nur meine Flügel nicht.‹
Im Augenwinkel sah er mehrere Dämonen vor sich stehen, hörte sie diskutieren. Eine neue Gestalt ganz in schwarz kam gerade dazu und schrie die anderen mit schriller Stimme an. Die Worte stachen wie ein Migräneanfall durch Dorians Kopf. »Wie, ihr habt noch nicht angefangen? Ihr solltet längst fertig sein!«
»Wir wurden… aufgehalten.«
Kollektives Seufzen.
»Und der andere falsche Engel ist auch noch nicht hier, auf den hätten wir eigentlich warten sollen.«
»Soll der Luzifer die Füße küssen, er wird sowieso ohnmächtig, bevor wir fertig sind.« Kurz Stille. »Und jetzt mach hin, ich habe keine Lust, dass der uns stirbt, bevor ihn jemand angerührt hat.«
Die Panik drückte Dorians Lungen zusammen, ließ ihn ein letztes Mal ausatmen und schnürte ihm dann die Kehle zu. Er krümmte sich zusammen, versuchte noch einmal zu schreien – ein jämmerlicher Laut entkam seiner Kehle. »Nein. Bitte…«
Der Dämon vor ihm zuckte mit den Schultern, und schaute ihn aus gelben Schlangenaugen an. »Tut mir leid, aber gerade können wir auch nichts machen. Halt still, dann geht’s wenigstens schnell.«
»Nein, ich… Nein!«
»Erzähl mir nicht, du willst leiden… Was habt ihr denn alle da drüben? Irgendjemand muss mir hier schon zur Hand gehen. Und du«, der Dämon wedelte mit seiner Hand wild in eine Richtung, »du gehst nachsehen, wo Asmodeus ist.«
»Bitte…« Dorian würde auf die Knie sinken, läge er nicht schon am Boden. »Bitte, ich tue alles…«
Jemand berührte ihn am Rücken und Dorian fuhr zusammen, die Berührung brannte. Kurz passierte nichts, dann fuhr ein heftiger Energiestoß durch seinen gesamten Körper und er stöhnte auf, riss an den Fesseln, doch sie gaben nicht nach. Es fühlte sich an, als würde jeder Wirbel seines Rückens nacheinander gebrochen, ehe es seine Schultern zerriss. Durch den Schmerz hindurch bemerkte er zuerst nicht, dass er seine Flügel ausbreitete. Er wollte sich auf den Boden erbrechen, doch außer einem sauren Brennen gab sein Magen nichts mehr her.
Dorians Kopf wurde mit Gewalt zu Boden gedrückt. Schritte neben seinem Ohr, er hörte alles so klar, als wäre die Welt doppelt so laut. Gleichzeitig glaubte er, neben sich auf dem Boden zu liegen und sich selbst zu sehen, bis in die Flügelspitzen angespannt und zitternd, mit tränenüberströmten Wangen und roten Augen, die so erkennbar zu Luzifer gehörten.
»Schön stillhalten«, sagte der Dämon hinter ihm. »Wir haben es gleich.«
›Ich will nicht. Bringt mich um, reißt mir das Herz raus, alles, aber nicht-‹
Seine Gedanken wurden abrupt von dem fürchterlichsten Schmerz unterbrochen, den Dorian jemals kennenlernen würde. Obwohl er eben noch keinen Laut mehr von sich hatte geben können, schrie er jetzt aus vollem Halse und so laut, dass es die ganze Hölle hören sollte.
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