Mit den Worten bewegte sich Gabriel nah an der Grenze dessen, was man dem Stellvertreter Gottes ins Gesicht sagen durfte, ohne dafür belangt zu werden. Entsprechend fühlten sie sich an wie ein gut gezielter Schlag in den Magen, aber am Ende blieben sie wahr. Keine Entscheidung zu treffen, war die schlechteste von allen.
»Jetzt sind die beiden Menschen ohnehin nicht in unserer Reichweite«, überredete sich Metatron zu sagen. Es fühlte sich an, als würde er sowohl Luzifer als auch die Erzengel enttäuschen. »Michael, du bereitest die Attentäter vor, falls sie doch wieder auf der Erde auftauchen. Wir sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten außerdem versuchen, an Informationen zu kommen, um zu verstehen, warum die Sache gestern Nacht überhaupt passiert ist.« Metatron schaute in die Runde und fragte sich, ob das wohl der Beschluss war, den alle hören wollten.
Michael nickte. Gut. Er traute sich noch am ehesten, Metatron zu widersprechen. »Ich sehe, was sich machen lässt«, sagte er. »Jophiel und ich arbeiten etwas aus. Ihr bekommt die Ergebnisse morgen.«
»Danke.« Metatron wollte sie jetzt schon nicht sehen und sich nicht damit beschäftigen, ebenso wenig wie mit den anderen Dingen, die heute noch auf seinem Plan standen. Er wollte ins Bett und die Sache verschlafen, wollte nicht funktionieren, konnte es nicht. Das Gefühl, dass sein Körper nicht nach ihm aussah und der Gedanke, dass ihn der ganze Himmel für männlich hielt, schrien ihm im Kopf herum, seitdem er heute Morgen in den Spiegel geschaut hatte. Er konnte sich selbst kaum zuhören.
Gabriel atmete einmal tief ein und aus, schloss kurz die Augen. »Gut«, sagte der Vorstand der Erzengel schließlich. »Mit dem Beschluss werden wir uns alle anfreunden können.« Da ihm niemand widersprach, fuhr er nach einem stillen Moment fort. »Diese Menschen werden in den nächsten Tagen sterben, und sei es durch unsere Hand. Danach sehen wir weiter.«
17
Metatron
1138 Jahre vorher
Himmel
Metatron hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon vor Seraphiels Wohnung stand und es einfach nicht schaffte, zu klopfen. Jedes Mal, wenn er seine Hand auch nur in die Richtung der Tür bewegte, fühlte es sich an, als würde ihn jemand packen und mit Gewalt zurückhalten. Eine Stimme in seinem Hinterkopf fragte unaufhörlich, was ihm einfiele, Seraphiels Ruhe zu stören und dass es hier sowieso um Dinge ging, die er mit sich selbst ausmachen sollte.
Es war sein erster freier Nachmittag seit langem, und Metatron hatte die Gelegenheit nutzen wollen, um sich mit Gott, sich selbst und vor allem diesem bevorstehenden Schwur zu beschäftigen. Aber kaum dass er mit seinen Gedanken alleine gewesen war, hatten sie ihn mit Fragen bombardiert, bis sein Kopf gefühlt zu platzen drohte und er mit Tränen in den Augen eingeschlafen war. Zwei Stunden später stand er jetzt hier, sein Kreislauf ebenso unsicher auf den Beinen wie er selbst, und fühlte sich schrecklicher als vorher.
Metatron nahm all seine Kraft zusammen, wehrte sich gegen was auch immer ihn zurückhielt und schlug versehentlich mit viel zu großer Kraft auf die Tür ein. Hoffentlich glaubte er nur, daraufhin mehrere feine Risse im Holz zu sehen.
Ihm öffnete ein kleiner und reichlich verschlafener Engel, den niemand für die mächtigste Person im Garten halten konnte. Seine schokoladenbraunen Locken standen ihm in allen Richtungen vom Kopf ab, seine ebenso braunen Augen blinzelten verschlafen und insgesamt machte er keinen besonders aufnahmefähigen Eindruck. Dann aber strich er sich über die Haare, streckte sich und sah auf einmal wie der Würdenträger aus, der er war. Als er Metatron erblickte, begann er sanft zu lächeln.
»Tut mir leid«, sagte Metatron dennoch als Erstes. »Ich wollte dich nicht wecken. Ich kann später wiederkommen, wenn-«
»Ich wollte ohnehin aufzustehen«, winkte Seraphiel ab. »Möchtest du Tee?«
Metatron spürte sich nicken, bevor er es sich anders überlegte. »Kann ich mit dir reden?«
»Sicher. Komm herein.«
Metatron tat wie geheißen, folgte Seraphiel in die Wohnung und fragte sich wie jedes Mal, wie der Engel es hier dauerhaft aushielt. Mit Ausnahme der Fenster standen Bücherregale an jeder Wand, selbst in der Küche und im Badezimmer. Sicherlich machten sie die Räume auch gemütlicher, ließen sie aber vor allem beengt wirken.
Die restliche Einrichtung hatte einen dunklen Stil, den Metatron sonst nicht vom Himmel kannte. Vermutlich hatte Seraphiel an seiner Wohnung seit mindestens zweitausend Jahren nichts mehr geändert – da der Garten niemals leerstehen durfte, verließ Seraphiel ihn nur äußerst selten und kannte sich zwar mit der aktuellen Politik aus, nicht aber mit Kultur. Geschichten schienen das Einzige zu sein, bei dem er auf dem Laufenden bleiben wollte, denn er bat die restlichen Seraphim regelmäßig, ihm neue Bücher mitzubringen.
Wann Seraphiel Zeit zum lesen fand, blieb allerdings ein Rätsel, denn als Gottes Berater verbrachte er mehr Zeit mit ihm als sie alle zusammen, saß stundenlang in Diskussionen versunken auf der endlosen Treppe, bis er meistens mitten in der Nacht wieder im Garten auftauchte und Ergebnisse präsentierte.
Seraphiel brachte zwei Becher voller Tee aus der Küche mit und stellte sie auf einem kleinen Tisch vor dem Sofa ab. »Setz dich.«
Metatron ließ sich neben ihm nieder und starrte danach unschlüssig in seinen Tee. Allein die Entscheidung, mit jemandem reden zu wollen, hatte so viel Überwindung gekostet, dass er sich keine Gedanken über den Rest gemacht hatte.
Seraphiel griff seelenruhig nach einer Dose auf dem Tisch und fügte mehrere gehäufte Löffel Zucker zu seinem Tee hinzu, bis selbst der Geruch so süßlich war, dass Metatron freiwillig Abstand von dem Getränk nahm. »Worum geht es?«, fragte er.
›Erwartest du wirklich, dass dir jemand helfen kann?‹, erwiderten Metatrons Zweifel. ›Das ist allein dein Problem. Deine Gefühle.‹
Er seufzte leise in sich hinein. Dann traute er sich, Seraphiel ins Gesicht zu sehen und zuzulassen, dass seine aufgewühlte Gefühlswelt daraufhin gelesen wurde, als wäre sie nur ein weiteres Buch.
»Ich weiß nicht«, sagte er, irgendwo musste er ja anfangen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, ob ich schwören soll oder nicht. Ich weiß nicht, wer ich sein will und… wer ich bin.«
Und es wurde schlimmer, je öfter Metatron mit Gott sprach. Immer weniger wusste er, was für ein Geschlecht seine eigenen Gedanken eigentlich hatten, wie er Gott nennen sollte und was das alles bedeutete. Gleichzeitig redete ihm eine ganz besondere Form von schlechtem Gewissen ein, dass er das doch gefälligst zu wissen hatte.
Seraphiel nickte bedächtig, griff nach seinem Tee und zuckte zurück, als er den heißen Becher berührte. Unterdessen studierte er Metatron mit wachem Blick. Mit jedem Blinzeln öffneten sich mehr Augen auf seinem ganzen Körper, blieben nur einen Moment lang sichtbar und ließen Betrachter häufig mit Zweifeln an ihrem eigenen Verstand zurück. Das war Seraphiels Art zu lesen: Hauptsächlich in Gefühlen seines Gegenübers, selten in Gedanken. Zumindest behauptete er, Letzteres nicht zu tun.
Da keine schmerzhaft genaue Analyse von Metatrons Seelenleben folgte, schien Seraphiel auf den ersten Blick auch nicht schlau aus dem Chaos zu werden. »Was hält dich davon ab, dich für den Schwur zu entscheiden?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Die ehrlichste Antwort, aber auch die am wenigsten hilfreiche. Bei dem aktuellen Stand hätte er gleich im Bett bleiben können, um da deutlich effizienter keine Ahnung zu haben. Metatron zwang sich, weiter zu reden. »Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin«, gab er zu. »Ich weiß nicht, ob ich die Verantwortung tragen und Gottes Ansprüchen gerecht werden kann.«
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