1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Das Gespräch im Garten zog sich in schwerfälliger Suche nach dem richtigen Vokabular in Richtung freundliches Schweigen.
Irgendwann wird Justina ganz bestimmt noch herauskommen, überlegte Arthurs Vater seufzend. Kann ja nicht ewig dauern, die Küche in Ordnung zu bringen... Luisa ist ja wirklich bezaubernd und ich will, so schnell ich kann, diese verflixte Sprache lernen, aber für heute habe ich eigentlich genug. Ich möchte nur noch ein paar brauchbare Informationen über den groβen „Don Julio“ und den Ort Independencia hören. Justina kann mir bestimmt noch vieles erzählen. Sie muss doch endlich herauskommen... Ich höre gar kein Töpfegeklapper mehr aus der Küche. Sie ist demnach mit dem Abwasch fertig.
Justina gesellte sich nicht zu den anderen im Garten.
Auch am nächsten Abend blieb sie nach dem Essen allein in der Küche.
Und an kommenden Abenden ebenso.
Die nächsten Tage nutzte Arthurs Vater, um sich die Stadt anzusehen. Täglich schnürte er am Morgen nach dem Frühstück seine Wanderschuhe und ging einfach los. Zielloses Erkunden. Auf diesen ziellosen Erkundungsgängen hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Im Grunde hatte er keine konkreten Vorstellungen, was er als nächstes tun sollte, um hier in Paraguay Fuβ zu fassen und seine Träume zu verwirklichen. Vertrauensselig hatte er sich darauf verlassen, dass sich am Ende schon alles irgendwie „ergeben“ werde. Schlieβlich hatten ihm die Freunde in Asemissen und Sennestadt versprochen, dass Julius Deisenhofer alles in die Wege leiten würde. Er konnte also vorerst gar nichts anderes tun, als auf diesen Deisenhofer zu warten. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn trotzdem, wenn er daran dachte, dass er die Gastfreundschaft eines Fremden einfach beanspruchte, ohne eine konkrete Abmachung mit ihm getroffen zu haben. Noch nicht einmal persönlichen Briefkontakt hatte er aufgenommen, sondern seine Absicht, nach Paraguay zu kommen, nur über Freunde angekündigt.
Wenn er mir nun am Ende eine Rechnung stellt, die ich gar nicht bezahlen kann? Er hat mir zwar ausrichten lassen, dass er mich in Empfang nehmen würde, und dass er sich über einen neuen Siedler in Independencia freuen würde, aber von Geld hat keiner geredet. Nun ja, immerhin habe ich nichts unterschrieben.
Bei dem Gedanken, am Ende vielleicht doch zur Rückreise nach Deutschland gezwungen zu sein, lief ihm ein Schauer über den Nacken. Sein Kapital wäre nach einer weiteren Schiffsreise beträchtlich zusammengeschrumpft. Und dann? Ein dumpfer Anflug von Schuldbewusstsein legte sich auf sein Gemüt, wenn er daran dachte, wie ärgerlich seine Schwestern über sein Weggehen gewesen waren. Gewissermaβen hatte er dadurch alle Brücken abgerissen.
Was soll’s, dachte er seufzend. Jetzt bin ich hier und muss schauen, was ich machen kann. Und wenn ich sie erst einmal mit Jaguar- oder Pumafellen beliefern kann, werden sich alle Wogen glätten.
Sein heutiger Stadtrundgang führte ihn zunächst durch die unmittelbare Nachbarschaft. Er sah stattliche Villen, aber auch Wohnhäuser, die nicht einmal als armselig bezeichnet werden konnten. Selbst in der Nachkriegszeit hatte in seiner Heimat niemand über lange Zeit in derart miserablen Verhältnissen gelebt. Aber die Bewohner dieser schäbigen Behausungen standen oder saβen vollkommen gelassen in kleinen Gruppen am Straβenrand und unterhielten sich laut und lachten scheinbar pausenlos über irgendetwas. Manche spielten Brettspiele, wie er es auf der Flussreise gesehen hatte. Immer wieder sah er auch Gruppen in kleinen Runden zusammen sitzen und diesen seltsamen, bitter schmeckenden Tee trinken. Nur ein einziger Becher, die so genannte „ Guampa “, wurde von allen benutzt, die in der jeweiligen Runde saβen. Je nach Tageszeit und Witterungsverhältnissen wurde ein wenig heiβes oder eisgekühltes Wasser auf den Brei aus fein gemahlenen Teeblättern in der Guampa gegossen und durch ein kleines Metallröhrchen, die Bombilla, gesaugt. Sobald ein schlürfendes Geräusch anzeigte, dass alle Flüssigkeit aufgesaugt war, wurde wieder Wasser aufgegossen und der nächste in der Runde kam an die Reihe. Ob es sich bei dieser Prozedur eher um ein Ritual oder reine Erfrischung handelte, konnte er noch nicht einschätzen.
Immer wieder begegnete er auch Straβenhändlern, die mit kleinen Bauchläden oder einem riesigen Korb auf dem Kopf durch die Gassen wanderten. Manche begrüßten ihn, als würden sie ihn schon lange kennen und versuchten, ihm irgendetwas zu verkaufen. Wenn er dankend ablehnte, schauten sie ihn vorwurfsvoll oder ungläubig an und streckten fragend die Arme in die Luft. Erst wenn er dann das Futter seiner Hosentaschen nach außen zog und den Kopf schüttelte, zogen sie mit einem enttäuschten Seufzen die Stirn in Falten und setzten ihren nie endenden Weg fort.
Schon nach wenigen Tagen hatte Arthurs Vater durch Zufall den Weg zum Hafen wieder gefunden. Bei dem Gedanken an seine Ankunft musste er grinsen. Er versuchte, durch die offenstehenden Flügeltüren einen Blick ins Innere des Hafengebäudes zu werfen, konnte aber nur schattenhafte Konturen ausmachen. Und hineinzugehen, danach stand ihm nicht der Sinn. Womöglich erkannte man ihn. Also ging er an dem schmucklosen Gebäude, das die meiste Zeit recht verlassen dastand, vorüber und erreichte kurz darauf ein prächtiges, wenn auch nicht sonderlich groβes, so doch geradezu prunkvolles Bauwerk. Überrascht von so viel baulicher Üppigkeit und architektonischer Liebe zu verschnörkelten Details blieb er stehen und schaute sich den Prunkbau an. Er musste die Augen etwas zukneifen, denn das strahlende Weiß der Mauern und Säulen warf das Sonnenlicht so leuchtend zurück, dass es blendete. Schmucke Arkaden und arabeskenverzierte Kapitelle prangten auf den Säulen des Mitteltraktes, der Balkon ging ohne Trennung in zwei Seitenflügel über. All das schien so gar nicht in die ärmliche Umgebung zu gehören. Hinter dem Gebäude, in Flussnähe, konnte er die gleichen ärmlichen Behausungen erkennen, wie in der Gegend, aus der er gerade gekommen war. Um gleichzeitig Prunk und Pracht neben Elend und Misere im Blickfeld zu haben, brauchte er nicht einmal den Kopf wenden.
Durch einen scheltenden Ruf wurde er aus seiner Faszination gerissen: Soldaten kamen hastig näher und deuteten unmissverständlich an, dass er die Straβenseite zu wechseln habe. Der „ Palacio de Gobierno “, von wo aus das gesamte politische Geschick des Landes geleitet wurde, war streng bewacht und es war für Unbefugte nicht erlaubt, sich davor aufzuhalten. Schlieβlich herrschte in Paraguay seit der Regierungsübernahme durch Alfredo Stroessner ein permanenter Ausnahmezustand. Die Bevölkerung des Landes hatte sich daran gewöhnt, und so war die Ausnahme zum Normalzustand geworden – und das schon seit beinahe einem Jahrzehnt!
Nach einem leichten Schulterzucken und entschuldigendem Kopfnicken in Richtung der Uniformierten setzte Arthurs Vater setzte seine Wanderung fort. Überall konnte man Spuren der einstigen spanischen Eroberer entdecken, doch obwohl ihn die Bauten der spanischen Einwanderer beeindruckten, hatte er kein wirkliches Interesse für die Geschichte des Landes oder politische Entwicklungen. Es freute ihn eher, dass er solches Interesse im Deisenhofer’schen Hinterhaus vor niemandem zu simulieren brauchte.
Sobald am späten Nachmittag seine Füße vom vielen Herumspazieren zu brennen anfingen, machte er kehrt. So wie in den letzten Tagen auch.
Noch bevor er durch das Tor in den Patio kam, wusste er schon, was im Hinterhaus gerade vor sich ging: Justina war dabei, das Abendessen vorzubereiten, während Luisa die Kleinen badete. Hildegard half ihrer Mutter beim Kochen, Maria Celeste und sein Sohn saßen entweder in der Badewanne oder alberten in der Duschkabine herum.
Wenn er Justina fragen würde, ob er irgendwie behilflich sein könnte, würde sie stumm den Kopf schütteln, ihn gar nicht weiter beachten.
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