„Nicht an dem Leben in der Stadt teilzunehmen! Was soll denn das schon wieder heiβen?“ Arthur kann es nicht lassen, an meinen Formulierungen herumzumeckern.
„Dann schreib doch selber, wenn es dir nicht passt!“
„Es geht nicht darum, ob es mir passt oder nicht, ich finde deine Ausdrucksweise nur manchmal ein bisschen seltsam, so melodramatisch, fast theatralisch!“
„Was ist daran theatralisch, wenn ich behaupte, Justina hätte am Leben nicht teilgenommen! Sie ging in Asunción nie aus, hatte keine Freunde, die sie besuchten, sie hörte noch nicht einmal Radio!“
„Ja, ja, das stimmt ja alles.“ Arthur denkt eine Weile nach. Dann sagt er: „Vielleicht war es mir nur bisher nicht wirklich bewusst, dass es ihr eigener Entschluss war, sich vollkommen auszugrenzen.“
„Ich fand es, nach allem was du mir über eure Zeit im Hinterhaus erzählt hast, immer ganz offensichtlich, dass sie sich selbst bestrafen wollte, indem sie das Leben einer Büβerin lebte. Sie muss ja sehr wohl mitgekriegt haben, dass andere Stadtbewohner, obwohl sie oft arm waren, so etwas wie Lebensfreude zeigten. Es gab in der Nachbarschaft Feste und Feierlichkeiten, es gab selbst in der nächsten Nachbarschaft Kneipen oder Restaurants in denen getrunken, gelacht und getanzt wurde. Wahrscheinlich hat sie diese öffentlich zur Schau gestellte Lebensfreude als das erkannt, was man bei ihr zu Hause als ‘verderbliches Verhalten’ bezeichnet hatte. Und davor war sie schlieβlich, neben der ‘Unzucht’, immer gewarnt worden, seit sie denken konnte.“
„Hm. Ja. Sie hat ihre eigenen kategorischen Grenzen gezogen, weil sie die Groβstadt als mögliche Rutschbahn in den Sündenpfuhl gesehen hat.“
„Musste sie ja! Schlieβlich war vorher, in ihrem Dorf im Chaco alles gut, richtig und gottgefällig gewesen. Hier war alles ganz anders, also schlecht. Aber ganz offensichtlich hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, am Ende doch noch von höherer Instanz als guter Mensch bewertet zu werden. Sie hat ja ihre abendliche Andacht nie versäumt, wie wir von deinem Vater wissen. Auch die permanent gut gelaunte Luisa hatte es längst aufgegeben, sie zu einem Abendspaziergang oder zu einem Plauderstündchen am Lagerfeuer einzuladen. Justina soll bei solchen Angeboten immer nur mit ernster Miene den Kopf geschüttelt und gesagt haben: ‘Ich muss in meiner Bibel lesen, ich will nie wieder meinen Weg verfehlen’.“
Arthur denkt lange nach ohne ein Wort zu sagen.
Schlieβlich sage ich: „Übrigens, bei aller Kritik an meiner Schreiberei: Ob es dir passt oder nicht, ich schreibe auch solche Gespräche auf, wie das, das wir gerade geführt haben.“
„Wenn du meinst“, sagt er nur, zuckt die Achseln und geht aus dem Zimmer.
Kapitel 4
Julius Deisenhofer hatte sein Eintreffen in der Hauptstadt angekündigt. Zwei seiner Arbeiter waren von ihm als Begleiter eines Holztransportes vorausgeschickt worden. Der Verkauf von Brennholz an das staatliche Elektrizitätswerk in Luque machte einen nicht unerheblichen Teil seiner Geschäfte aus.
Am späten Nachmittag schlenderten zwei Arbeiter, Miguel und Adalberto, gemächlich und mit fröhlichem Grinsen im Gesicht über den Patio zum Hinterhaus. Ganz offensichtlich waren sie nicht zum ersten Mal hier, denn sie kamen unbefangen und wie selbstverständlich bis unter das Vordach. Auch auf das übliche In-die-Hände-Klatschen, welches hier in Paraguay zum guten Ton gehört, um sich bemerkbar zu machen, hatten die beiden verzichtet. Einer der Männer versuchte durch die offen stehende Tür in Luisas Schlafzimmer zu schielen. Maria Celeste bemerkte den Schatten in der Tür, erkannte den Arbeiter und sprang ihm sofort entgegen. Auch ihre Brüder empfingen die beiden mit fröhlichem Geschrei.
„Morgen kommen Onkel Julio und Tante Christa!“, rief Maria Celeste erfreut, als sie die Nachricht hörte. Adalberto packte das jubelnde Kind daraufhin bei den Händen und drehte sich um sich selbst, so dass Maria Celestes Füβe sich vom Boden lösten und durch die Luft wirbelten. Arthur stand dabei und wurde von ihrem Lachen angesteckt. Da packte ihn Miguel und lieβ ihn ebenfalls an den Händen durch die Luft fliegen. „Du musst Maria Celestes neuer Freund sein! Haben schon von dir gehört, kleiner Weißkopf!“
Übermütig tobten Deisenhofers Waldarbeiter mit den Kleinen herum und lieβen sich ständig neue Albernheiten einfallen, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Alle wurden von der ausgelassenen Stimmung angesteckt. Selbst Hildegard erhielt von Justina die Erlaubnis, eine Viertelstunde mit den anderen zu spielen. Anfangs stand sie mit schüchternem Lächeln daneben. Aber als Maria Celeste und Arthur beim Packenspielen hinter ihr her jagten, konnte sie auch sie endlich einmal aus vollem Halse lachen. Selbst die Vögel schienen lauter zu zwitschern als sonst, die ganze Luft flimmerte vor Fröhlichkeit.
Erst kurz vor Sonnenuntergang rief Justina zum Abendessen. Eilig wuschen sich alle die Hände und kamen in die Küche. Arthurs Vater fiel auf, dass die beiden Besucher von einer Minute zur anderen wie ausgewechselt schienen. Es mochte an Justina liegen. Aus irgendeinem Grund schien in ihrer Gegenwart jedes Anzeichen von Ausgelassenheit und Freude unangebracht. Mit gesenkten Köpfen kamen Miguel und Adalberto in die Küche und fragten Luisa fast flüsternd, wo sie sich setzen sollten. Dann warteten sie schweigend, bis Justina ihr Tischgebet mit einem lauten „Amen“ beendet hatte und anfing, den Braten zu zerteilen. Auch beim Essen herrschte fast schüchterne Schweigsamkeit, obwohl die aufgetischte Mahlzeit wie immer üppig war und hervorragend schmeckte.
Und genauso plötzlich wie die Stille eingetreten war, verschwand sie auch wieder, als alle satt waren und Justina die Mahlzeit für beendet erklärte, indem sie aufstand und anfing, den Tisch abzuräumen.
Luisa zog Adalberto am Arm nach drauβen und forderte ihn in neckischem Befehlston auf, Brennholz bei der üblichen Feuerstelle aufzuschichten. Über alle Maßen witzige Bemerkungen schienen zwischen den Arbeitern und Luisa hin und herzufliegen, denn die wenig geistreichen Gespräche endeten immer wieder in Luisas perlendem Lachen. Arthurs Vater konnte annähernd den Sinn verstehen, als sie dann die Stimme senkte und zu Miguel sagte: „Du könntest die Korbsessel von der Terrasse in den Garten bringen, während ich mich um die Kinder kümmere. Und lass dir von der Küchenhilfe eine Flasche Wein und Gläser geben! Ich bin gleich wieder da.“
Küchenhilfe! Ich lag also gar nicht so verkehrt mit meinem Eindruck, dachte Arthurs Vater. Luisa spielt vor den Arbeitern die überlegene Hausherrin. Ich möchte mal sehen, ob sie genauso herablassend über Justina spricht, wenn die Deisenhofers da sind.
Miguel hatte seine Finger in die Öffnungen der vier Gläser gesteckt, um sie zusammen mit der Weinflasche in den Patio zu tragen. Arthurs Vater wollte behilflich sein, und Miguel etwas abnehmen, dieser ignorierte ihn jedoch. Also beeilte Arthurs Vater sich, einen Hocker bereitzustellen. Miguel nickte nur, stellte Flasche und Gläser ab, dann machte er sich ohne ein Wort zu sagen daran, eine Hängematte zwischen den Pfeilern des Vordachs aufzuspannen. Adalberto tat das Gleiche, ebenfalls in tiefes Schweigen gehüllt.
Komisch, dachte Arthurs Vater, diese beiden Kerle scheinen nur mit Kindern und Luisa zu sprechen.
Er setzte sich. Miguel war mit dem umständlichen Knoten an seiner Hängematte fertig, also setzte er sich ebenfalls. Wenig später ließ sich auch Adalberto auf einen Stuhl fallen. Keiner der drei sagte etwas. Die Stille hing bleiern über ihnen, war irgendwie peinlich. Alle warteten auf Luisa.
Nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, kam sie langsam, mit leicht wiegenden Hüften in den Patio. Sie streckte sich genussvoll, fuhr mit der Hand über ihren Nacken und löste dabei wie zufällig die Spange, die ihr langes schwarzes Haar in einem dicken Pferdeschwanz zusammengehalten hatte. „Nun Männer, kriege ich ein Glas Wein?“, fragte sie mit kecker Stimme. Und sofort griffen alle drei Männer nach dem Weinglas, das man für sie bereitgestellt hatte. Luisa lachte etwas zu laut.
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