Hektisch zieht Zoe zwei schwere Koffer aus dem Abstellraum neben der Küche hervor und ruft lauthals nach ihrer Tochter.
„Wir gehen“, verkündet sie energisch, wobei Tränen unaufhörlich von ihren Wangen tropfen.
Julie kommt durch die Tür, sieht mit aufgerissenen Augen zwischen mir und ihrer Mutter hin und her.
„Nimm deinen Koffer, Julie. Wir gehen zu Tante Mira.“
Das Mädchen nimmt ihrer Mutter einen Koffer ab. Dann blickt sie mich fast entschuldigend an, doch Zoe drängt sie an mir vorbei in den Flur.
Schnell nehme ich meine Sachen und folge den beiden. Zoe läuft mit schnellen Schritten zur Haustür und mahnt ihre Tochter zur Eile. Ich haste hinterher.
Draußen tobt der Wind, der Regen peitscht durch die nun geöffnete Haustür hinein und ein weiterer Blitz erhellt kurzzeitig den Himmel. Zoe holt einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche, fummelt daran herum und wirft mir einen einzelnen Schlüssel zu. Nur mit Mühe fange ich ihn. Sie befiehlt ihrer Tochter zum Auto zu gehen und diese rennt los.
„Wir gehen, Scarlett. Ruf mich an, wenn das Ding weg ist. Egal wie lange es dauert, oder was es auch kosten mag, mach es weg!“, ruft sie mir entschlossen über den Donner, den prasselnden Regen und das Peitschen des Windes zu.
Dann rennt sie selbst zur Garage, den Koffer hinter sich herschleifend, durch die herabfallenden Wassermassen und lässt mich allein zurück.
Ein weiterer Blitz durchzuckt den Himmel, als auch ich fluchtartig das Haus verlasse. Auf keinen Fall bleibe ich mit diesem Schattenwesen alleine zurück!
Ich werfe die Tür hinter mir zu und haste in mein Auto, während Zoe mit ihrem silbernen SUV an mir vorbeirast. Mit durchdrehenden Reifen manövriert sie diesen riesigen Wagen zwischen den Bäumen hindurch hinaus auf die Straße. Ich blicke ihr nach, bis sie hinter Regengüssen aus meiner Sicht verschwindet.
Mein keuchender Atem lässt rasch die Scheiben von innen beschlagen, meine Hände beben und mein Herz rast. Ich stelle den Scheibenwischer an, verriegle den Wagen von innen und blicke durch den Regen am Haus empor, als ich den Motor anlasse. Oben, an einem der Fenster, das wie ein finsteres Auge auf mich herabstarrt, huscht ein schwarzer Schatten entlang und die Gardine beginnt zu zittern.
Ich lege panisch den ersten Gang ein, schlage das Lenkrad herum und gebe Vollgas. Holpernd komme ich auf die Auffahrt und blicke in den Rückspiegel. Das Haus lacht. Es lacht mich eigenartigerweise aus und für den Bruchteil einer Sekunde höre ich das gurgelnde, knurrende Fauchen in meinem Nacken. Ich schreie und fahre ruckelnd vom Grundstück.
Auf der Straße zwinge ich mich dazu, die Panik zu vertreiben und konzentriere mich mehr auf das Schalten und angemessene Gas geben, während ich angestrengt durch den Regen blinzle. Erst, als ich das Haus nicht mehr im Rückspiegel sehen kann, fahre ich rechts ran. Meine Hände umklammern das Lenkrad, sodass meine Knöchel weiß hervortreten. Die Wassertropfen trommeln unaufhörlich auf das Dach und übertönen fast gänzlich meine Gedanken. Ich atme tief ein und reibe mir die Stirn.
Was habe ich dort im Haus gesehen, frage ich mich und schüttle mit dem Kopf. Es kann kein Geist gewesen sein, denn so etwas gibt es nicht.
Oder doch?
Mein Blick fällt auf den Stapel Sachen auf dem Beifahrersitz. Mit den Fingerspitzen fahre ich über das in Leder gebundene Buch. Was würde Elvira jetzt tun? Ich soll mich um ihre Kunden kümmern, und alles, was ich dazu wissen muss, hat sie in diesem Buch niedergeschrieben, hieß es in ihrer Nachricht.
Kopflos drücke ich die Stirn gegen das Lenkrad und seufze laut. Ich darf meine Tante nicht enttäuschen. Sie hat sich immer um mich gekümmert, vor allem nachdem meine Mutter es nicht mehr konnte. Elvira ist immer für mich da gewesen.
Andererseits wehrt sich alles in mir dagegen, wieder zu diesem Haus zu fahren. Was ich auch immer dort gesehen habe, es hat mir mächtig Angst eingejagt. Ich brauche erst mal ein bisschen Abstand, eine kurze Pause, um mir darüber klar zu werden, was ich nun als nächstes tun soll.
Also starte ich erneut den Motor und fahre zu meiner Mutter in die Klinik.
Ich stelle meinen schwarzen Panther auf meinem Stamm-Parkplatz ab, nehme das Buch und meine Handtasche und gehe am Pförtner vorbei durch den Klinikeingang.
„Hallo Scarlett!“, begrüßt mich Henry, der Pförtner, freundlich und lächelt breit, während er seinen prallen Weihnachtsmannbauch vorstreckt. „Herrliches Wetter heute, oder?“
Ich blicke zum Himmel, an dem nur ein paar vereinzelte Wattebauschwolken zu sehen sind. „Hallo Henry, ja, es ist wirklich ein schöner, sonniger Tag“, antworte ich und blinzle ein bisschen konfus in die Sonne.
„Grüß‘ deine Mutter von mir“, ruft er mir nach, als ich durch die Glastür husche, schlägt die Hacken zusammen und tippt sich an die Mütze.
„Werde ich machen!“
Ich gehe den langen Gang entlang, vorbei am Schwesternzimmer, wo ich das Gemurmel und Gelächter der Schwestern höre, die sich dort zur Mittagspause versammelt haben. Normalerweise würde ich sie begrüßen, aber ich möchte sie in ihrer kurzen Pause nicht stören.
Die Tür zum Zimmer meiner Mutter steht wie immer einen Spalt offen. Ich klopfe an und trete sofort darauf ein. Mutter sitzt an einem kleinen Klapptisch vorm Fenster. Auf dem Tisch steht das Mittagessen, unangetastet. Die Sonne strahlt durch das Blätterdach eines Baumes und hinterlässt wild tanzende Tupfen von Sonnenlicht im ganzen Raum.
„Hallo Mama“, sage ich, lege meine Sachen auf ihr Bett und hänge meinen nassen Mantel an den Haken hinter der Zimmertür. „Jetzt, wo ich zu dir komme, scheint die Sonne, dabei hat es den halben Vormittag geregnet.“
Ich gehe zu ihr, lege meine Hand auf ihre Schulter und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr langes, graues Haar wirkt struppig, obwohl die Schwestern es gebürstet haben, soweit ich erkennen kann. Ich nehme eine Strähne und streiche sie über ihre Schulter.
„Elvira ist weg“, sage ich. „Sie ist einfach verschwunden und ich weiß nicht, wo sie ist“, beginne ich zu erzählen und gehe um meine Mutter herum. Ihre fliederfarbene Strickjacke ist ihr von der Schulter gerutscht. Ich ziehe sie wieder hoch und schließe die obersten Knöpfe. „Aber sie hat mir eine Nachricht hinterlassen. Sie schreibt, ich soll mir keine Sorgen machen, aber natürlich mache ich mir Sorgen.“
Ich seufze, nehme ihre unbenutzte Gabel und stochere im noch heißen Kartoffelbrei herum. Eine kleine Menge nehme ich auf, gerade so viel, dass es für einen Spatz reichen würde, und halte ihr die Gabel vor den Mund. Mechanisch öffnet sie ihn ein kleines Stück. Ihre trockenen Lippen umschließen die Gabel und ich ziehe sie sanft wieder heraus, während die Augen meiner Mutter weiter ins Nichts starren. Ich hole einen Hocker herbei und setze mich.
„Ich soll mich um ihre Kunden kümmern, hat sie geschrieben.“ Umständlich pikse ich ein paar Erbsen auf, ziehe sie durch die braune Soße und führe die Gabel wieder vor ihren Mund. „Aber, weißt du was?“, frage ich leise und verschwörerisch, wobei ich mich umsehe, um sicher zu gehen, dass uns keiner belauscht. „Elvira hat gar kein Reisebüro.“
Mit dem Messer schneide ich ein kleines bisschen von der dünnen Scheibe Schweinebraten ab und ziehe es durch Kartoffelbrei und Soße. „Das Reisebüro war nur eine Tarnung. In Wirklichkeit arbeitet sie als Parapsychologin“, flüstere ich und sehe Mutter lange in die Augen.
Sie blinzelt. Ihre Augen sind feucht, aber nicht so, als ob sie weinen müsste. Wieder blinzelt sie und starrt auf einen Punkt am Fenster, den nur sie sehen kann.
Während ich ihr das restliche Essen anreiche, rede ich weiter. Ich erzähle ihr alles, von dem geheimen Büro, dem handgeschriebenen Buch, den Pulvern und Tinkturen in den ominösen Fläschchen und den Amuletten. Von meinem neuen Auto, von Zoe und Julie, ihrem Haus und dem Schatten darin. Von Blitz, Donner, heißem Fauchen, Knurren und gruseligem Lachen.
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