Ganz hinten in der Lade ist ein Kulturbeutel, an dem auch ein Klebezettel mit meinem Namen klebt. Er ist schwer und prall gefüllt. Als ich ihn öffne, kommt mir ein seltsamer Geruch entgegen. Es riecht nach Gewürzen, Kräutern und rostigem Metall. Ich hole verschiedene Sachen heraus: Einen Samtbeutel gefüllt mit Edelsteinen, mehrere Fläschchen mit Pulver oder Salzen, ein silberner Flachmann mit irgendeiner Flüssigkeit, dann noch ein paar silberne, goldene und kupferne Amulette und Münzen mit Symbolen darauf.
Ich habe keinen Schimmer, was ich mit all dem Zeug anfangen soll. Verwirrt sortiere ich es zurück in die Kulturtasche. Dann mache ich mich an das mysteriöse Buch mit dem Stern auf dem Deckel und schlage es auf. Auf der ersten Seite ist eine handschriftliche Notiz von Elvira an mich, darunter klebt ein Briefumschlag.
Liebe Scarlett,
ich freue mich, mein Vermächtnis nun an Dich weitergeben zu können. (Auch wenn ich mir gewünscht hätte, es Dir unter anderen Umständen beizubringen.)
Vermächtnis? Wovon spricht sie nur?
Ich weiß, all das mag Dir sehr fremdartig und seltsam vorkommen-
Du hast ja keine Ahnung...
-aber ich kann Dir versichern, alles, was Du in diesem Buch lesen wirst, ist wahr.
Du musst Dich von nun an um unsere Kunden kümmern.
Welche Kunden? Ich verstehe das alles nicht!
Bist Du im Dienst, wirst Du Dich Scarlett Taylor nennen, nicht Scarlett Schneider. Von nun an hast Du zwei Identitäten:
- Scarlett Schneider, wenn Du nicht im Dienst bist,
- Scarlett Taylor, Parapsychologin im Außendienst, wenn Du arbeitest.
Du wirst als Parapsychologin Dinge tun müssen, die oftmals illegal und gesetzeswidrig sind. Benutze deswegen diesen Decknamen bei Deinen Aufträgen.
„Was?“, schreie ich in die Stille hinein und klappe das Buch zu. Meine Tante muss verrückt sein! Parapsychologin ... Was soll das sein?
Ein weiteres Mal hole ich mein Handy aus der Tasche und wähle Elviras Nummer. Ich muss mit ihr sprechen. Dringend! Aber wieder geht sie nicht ran.
Ich schlage das Buch erneut auf. Da ist dieser Briefumschlag. Doch ein wenig neugierig öffne ich ihn und fische zwei Plastikkarten und ein Büchlein heraus. Als ich sie ansehe, kann ich es kaum fassen: Es ist ein Personalausweis, ein Führerschein und ein Reisepass. Alle drei ausgestellt auf den Namen „ Scarlett Taylor “, mit meinem Foto als Passbild.
„Scarlett Taylor“, flüstere ich leise und lese den Namen wieder und wieder auf den Ausweisen. „Scarlett Taylor... So schlecht klingt das gar nicht.“
Ich bin völlig in Gedanken vertieft, als das Telefon klingelt. Vor Schreck lasse ich meine neuen Ausweise fallen. Nach dem zweiten Klingeln geht der Anrufbeantworter an und ich lausche gespannt der Ansage.
„Dies ist der Anschluss von Elvira Taylor, Parapsychologin im Außendienst. Ich bin zurzeit leider nicht im Büro, Sie können mir aber eine Nachricht hinterlassen. Ich werde mich dann umgehend bei Ihnen zurückmelden.“
Dann ein Pfeifton, danach ein Schluchzen. „Elvira? Sind Sie da?“, spricht eine weibliche, weinerliche Stimme auf den Anrufbeantworter. „Wir brauchen Ihre Hilfe. Eine Bekannte hat Sie empfohlen.“ Sie seufzt und zieht die Nase hoch. „Elvira? Wenn Sie da sind, nehmen Sie bitte ab.“
Das Schluchzen und Flehen der Frau geht mir durch Mark und Bein. Sie tut mir ehrlich leid. Offensichtlich ist sie sehr verzweifelt.
Du musst Dich von nun an um unsere Kunden kümmern , hatte Elvira geschrieben.
„Elvira?“, fleht die Frau weinerlich.
Ich gebe mir einen Ruck und nehme den Hörer ab.
„Scarlett Taylor hier.“ sage ich und bin erstaunt, wie leicht mir mein neuer Name über die Lippen geht. „Elvira ist zurzeit leider nicht zu sprechen, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“
Kurz ist Stille am anderen Ende, dann wieder ein weinerlicher Seufzer. „Ich weiß nicht. Sie halten mich wahrscheinlich für verrückt.“
Ich gebe ein kurzes Prusten von mir. „Nein, mit Sicherheit nicht. Verrückter als das, was ich gerade erlebe, kann es gar nicht sein.“ Die weinerliche Frau schluckt und räuspert sich. In sanfterem Ton fahre ich fort. „Erzählen Sie mir doch worum es geht, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich bin die Nichte von Elvira Schnei... äh, Taylor.“ Mist.
„Okay... Also, wir sind vor circa sechs Monaten in dieses Haus gezogen. Ich wusste von Anfang an, dass hier etwas nicht stimmt. Es war so ein Gefühl, wissen Sie?“, fängt die Frau an zu erzählen.
Ich spiele mit dem Münzamulett in meiner Hand, während ich zuhöre. „Ja, kenne ich“, lüge ich und drehe die Münze zwischen meinen Fingern. „Und weiter?“
„Und nun ist es seit knapp drei Wochen so, dass ich mich beobachtet fühle. Nicht nur ich, meine Tochter auch, sie ist vierzehn. Wir fühlen uns beim Anziehen, Ausziehen und Duschen beobachtet. Es ist, als seien wir nie allein.“
„Hmm“ brumme ich. „Sind Sie denn allein? Oder beobachtet Sie der Nachbarsjunge durchs Fenster, oder sowas in der Art?“ Natürlich suche ich erst einmal nach einer logischen Erklärung.
Wieder herrscht kurz Stille am anderen Ende. „Nein… Das war ja auch noch nicht alles! Seit einigen Nächten wird meiner Tochter nachts die Bettdecke vom Bett gezogen. Sie hat panische Angst und mag nicht mehr allein in ihrem Zimmer schlafen. Und ich habe einen Schatten gesehen. Mehrmals. Er hat sich bewegt. Es war wirklich unheimlich“, erzählt sie und ihre weinerliche Stimme kehrt zurück. „Mein Mann glaubt das alles nicht, aber ich habe es gesehen! Und es hat mit mir gesprochen!“
„Was hat mit Ihnen gesprochen?“
„Der Schatten!“
„Und was hat er gesagt?“, hake ich neugierig nach.
Sie zögert ein wenig, dann höre ich sie schluchzen. „Er sagte... Sie ist mein! “
Ich muss schlucken, und obwohl ich es nicht gern zugebe, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
„Können Sie vorbeikommen und das... wegmachen?“, schluchzt und fleht sie weiter.
„Nun ja. Ich kann es versuchen. Ich vertrete Elvira bloß bis sie wieder da ist“, gebe ich nach, ohne zu wissen, wie ich der Frau überhaupt helfen könnte.
Sie wirkt erleichtert, gibt mir ihre Adresse und Telefonnummer und wir verabreden uns für den morgigen Tag. Insgeheim hoffe ich, bis dahin Elvira gefunden zu haben, damit sie diese Angelegenheit übernehmen kann. Wir verabschieden uns und ich lege den Hörer auf.
Ich lehne mich zurück und schlage die Hände vors Gesicht. Wo bin ich hier bloß hineingeraten? Wie soll ich dieser Frau nur helfen? Was erwartet Elvira nun von mir?
Ich nehme mir das prall gefüllte Buch erneut vor und lege es auf meinen Schoß, in der Hoffnung, darin vielleicht die Antworten zu finde. Auf der zweiten Seite klebt ein weiterer Briefumschlag. Als ich ihn öffne, entdecke ich darin dreitausend Euro in großen Scheinen und eine Kreditkarte auf den Namen Scarlett Taylor . Ich befühle das Papier des Geldes mit den Fingern und kann es kaum fassen. Wieso hinterlegt Elvira mir so viel Geld? Darf ich es behalten? Wofür ist es gedacht? Ich kann es natürlich sehr gut gebrauchen, davon könnte ich tanken und Lebensmittel kaufen. Seit Monaten habe ich kaum Geld. Das Arbeitslosengeld reicht gerade mal für die Miete und die Nebenkosten. Danach bleibt mir nicht mehr viel übrig. Sicherlich hätte ich mir eine günstigere Wohnung nehmen können, aber ich habe nun mal meine Ansprüche.
Ich lege das Geld und die Kreditkarte auf den Tisch und blättere zur nächsten Seite. Wieder ein Briefumschlag, diesmal ein wattierter, der das ganze Buch ein wenig zerknittert und ausbeult. Ich öffne ihn und ziehe einen Autoschlüssel samt Fahrzeugschein heraus. Der Wagen ist auf meinen Namen zugelassen. Als ich den Fahrzeugschein auseinanderfalte, fällt ein kleiner Zettel heraus: Wagen steht auf dem Parkplatz hinter dem Reisebüro .
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