»Ja, Sir!«, ertönte es wie aus einem Mund. Der Professor konnte sich trotz der ernsten Lage ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Also, wer hat eine Ahnung, wo Victoria sein könnte?«
Der junge russische Student druckste herum und gab schließlich zu, am gestrigen Abend Victoria die Lage der Fundstelle 3 geschildert zu haben. Er hatte den Eindruck, dass Victoria diese unbedingt besichtigen wollte. Seine bevorstehende Doktorarbeit behandelte unter anderem die Fundstücke der siebziger Jahre-Expedition. Deshalb wusste er natürlich über die genaue Lage der damaligen Ausgrabungsstätte Bescheid, obwohl er selbst noch nie dort war.
»Ich habe Victoria angeboten, den Ort gemeinsam aufzusuchen, aber offensichtlich wollte sie auf eigene Faust…«
In diesem Moment wurde er durch laute Hilferufe unterbrochen. Victoria taumelte hinter einem der Zelte hervor. Ihre untere Gesichtshälfte war dick angeschwollen und an vielen Stellen stark gerötet. Einer der beiden einheimischen Begleiter kümmerte sich sofort um die Schwellungen und kühlte sie mit einer speziellen Paste. Der Professor und Neil befragten Victoria zu den Ursachen für ihren Zustand. Nach kurzer Rücksprache mit den äthiopischen Helfern wandte sich Nielsson an die Expeditionsteilnehmer.
»Es scheint sich anscheinend um den Angriff einer Speikobra gehandelt zu haben. Die kommt zwar in dieser Gegend nicht häufig vor, aber deren Attacken sind trotzdem gefürchtet. Außer dem normalen Zubeißen spritzen sie ihren Feinden das Gift aus mehreren Metern ins Gesicht. Victoria hat insofern Glück gehabt, dass sie offenbar nichts direkt in die Augen abgekriegt hat. Das soll für jeden von euch eine Warnung sein, dass die Natur durchaus wehrhaft sein kann und dass trotz allem Enthusiasmus für unsere Aufgabe bestimmte Regeln eingehalten werden müssen…«
***
Vorsichtig wischte Erol mit einem Handwischer über das Objekt, das er in den letzten Stunden in einer flachen eineinhalb Meter tiefen Mulde teilweise freigelegt hatte. Er war der jüngste Teilnehmer der Expedition. Durch seinen Fleiß und vor allem durch seine rasche Auffassungsgabe hatte er beim Professor ein beachtliches Vertrauen verdient. Deshalb wurde er mit der Freilegung des Objektes, das sich in etwas über einem Meter Tiefe abgezeichnet hatte, beauftragt.
Die Unternehmung war mit modernstem Equipment ausgerüstet und konnte schon am zweiten Tag mittels einem speziellen Georadar, der bis in eine Tiefe von fünf Metern detaillierte Unregelmäßigkeiten in der Bodenbeschaffenheit anzeigte, den ersten Treffer melden. Sogar in festen Gesteinsschichten konnten so Fremdkörper detektiert werden. Der einzige Nachteil des Gerätes war der Umstand, dass es sehr energiehungrig war. Deshalb war es unerlässlich, stets Reserve-Akkus mitzuführen, wenn man sich weiter vom Camp entfernte.
Erol kratzte mit einem Metallspatel die fast steinharte Erde um die halbkugelförmige Versteinerung weg. Mit einem Pinsel wischte er fortlaufend die Staubschicht an den Stellen, wo das versteinerte Objekt aus der Erde ragte, weg und benutzte den Spatel für härtere Erdschichten. Einmal musste er einen Skorpion verscheuchen, der sich in die Grube verirrt hatte und ihm unangenehm nahe kam. Er wischte sich mit dem Handgelenk den Schweiß weg, der trotz seines Stirnbandes in die Augenbrauen und über den Nasenrücken lief. Konzentriert arbeitete er weiter.
Plötzlich rutschte der Spatel trotz aller Vorsicht von der erstaunlich glatten Fläche der kuppelförmigen Versteinerung ab und stieß bis zur Grifffläche in eine weichere Stelle ein. Erstaunt befreite Erol die entstandene Vertiefung von den verhärteten Erdrückständen. Eine Aushöhlung kam zum Vorschein. Das war doch nicht etwa…? Er konnte es nicht glauben.
»Professor! Professor, kommen Sie schnell! Hier bin ich!«, winkte Erol, als der Professor den Kopf hob und suchend um sich schaute.
»Schauen Sie sich das mal an«, sagte Erol mit unverhohlenem Stolz, als der Expeditionsleiter zu ihm in die flache Mulde gestiegen war. »Sieht doch aus, wie der Teil eines menschlichen Schädels, meinen Sie nicht auch?«
Der Professor betrachtete das Fundstück aus verschiedenen Blickwinkeln und meinte dann beschwichtigend: »Nicht so vorschnell, mein Junge. Bevor das Fundstück nicht ganz freigelegt ist, wollen wir uns mit Prognosen doch noch etwas zurückhalten. Im Moment sieht das hier aber wirklich wie ein Piratenkopf aus; würde mich also nicht wundern, wenn Sie auch noch die dazu passende Augenklappe ausbuddeln…«
Nielsson musste über seinen eigenen Scherz grinsen. »Machen Sie einfach weiter. Wenn Sie Unterstützung benötigen, melden Sie sich direkt bei mir.«
Tüchtiger Junge, dachte Nielsson. Tatsächlich hatte auch er beim Betrachten des Fundstückes als erstes an ein hominides Schädelfragment gedacht, was aber erst nach der kompletten Ausgrabung und dem Entfernen des verhärteten Erdreiches verifiziert werden konnte. Abgesehen davon schien es sich - wenn es sich wirklich um ein menschliches Schädelfragment handeln sollte - wohl eher um neuzeitliche Überreste eines Hominiden zu handeln. Über der vermeintlichen Augenhöhle fehlte nämlich der typische Stirnwulst, der bis zum Auftreten des Homo sapiens deutlich ausgeprägt war.
Bereits nach einer halben Stunde wurde Nielsson von Erol wieder zu der Fundstelle gerufen. Diesmal war es der Professor, der erstaunt auf das Objekt blickte. Zwei leere Augenhöhlen starrten ihn an. Er beugte sich vor und betrachtete den Fund lange, bevor er zu Erol sagte: »Haben Sie den Nasenansatz bemerkt? Und hier, das Jochbein? Ich hoffe, Sie sind nicht allzu enttäuscht. Der Fund dürfte im besten Fall ein paar tausend Jahre alt sein.«
Bis zum Sonnenuntergang hatte Erol das größte Fragment des versteinerten Schädels komplett freigelegt und zusätzliche Knochenstücke gefunden und markiert. Es sah ganz so aus, als ob die einzelnen Stücke alle zu dem Schädel passen würden. Genaueres konnte aber erst nach dem 3-D Puzzle, wie Erol den Vorgang des Zusammenfügens von einzelnen Knochenstücken salopp bezeichnete, festgestellt werden.
Der Professor untersuchte bereits das größte Fundstück. Wie er sich schon Erol gegenüber geäußert hatte, war er fest davon überzeugt, dass die Knochen trotz der totalen Versteinerung einem neuzeitlichen Menschen zugeordnet werden mussten. Die ganze Gesichtsfront, die vom Oberkiefer über die Stirne bis zum Ansatz des Hinterkopfes in einem Stück geborgen werden konnte, entsprach durchaus dem heutigen Homo sapiens, einzig der Übergang zum Hinterkopf machte Nielsson stutzig. Er wartete ungeduldig auf weitere Schädelfragmente, die Erol auf seine Anweisung hin sofort in das Arbeitszelt bringen sollte, sobald sie von den gröbsten Verunreinigungen befreit worden waren.
»So, das ist im Moment alles«, sagte Erol, als er das Zelt betrat. Er legte die einzelnen Bruchstücke, die an Tonscherben eines Kruges erinnerten, vorsichtig auf die Arbeitsfläche. »Morgen nach Sonnenaufgang grabe ich gleich weiter. Da kommt bestimmt noch einiges ans Tageslicht.«
Nielsson bedankte sich bei seinem Schützling. Dieser hatte praktisch den ganzen Tag in der brennenden Sonne nur von einem kleinen Sonnendach geschützt in einem flachen Erdloch kniend und liegend gearbeitet. Neil, der Assistent des Professors, war schon damit beschäftigt mit einer Knetmasse die einzelnen Schädelfragmente passend an das Hauptstück zu setzen. Erstaunlicherweise gab es nur ein paar maximal fingernagelgroße Lücken, ansonsten passten die einzelnen Stücke an den Bruchstellen millimetergenau aneinander.
»Professor, schauen Sie mal. Ich bin zwar noch nicht ganz fertig, aber man kann bereits die Schädelform und Größe erahnen. Zuerst dachte ich, es wären zu viele einzelne Stücke, aber die Teile waren absolut passend und auch die große Wölbung am Hinterkopf stimmt nach dem Einpassen perfekt. Die Schädelform kommt mir irgendwie seltsam vor, aber ich komme einfach nicht drauf, wo ich so was schon mal gesehen habe.«
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