Für den Rest der Nacht marschierten sie in den Spuren ihrer Gefährten und deren Verfolger. Schnee bedeckte bereits weite Teile der Landschaft, doch es blieben genügend Stellen frei, um die Straße und die Fährten nicht zu verlieren.
Ihre Geschwindigkeit war niedrig, denn Kmarrs Verletzung machte sich im Laufe der Zeit immer stärker bemerkbar, so dass sie zahlreiche Pausen einlegen mussten.
Seine Laune sank mit jedem Halt weiter, bis Anaya schließlich kopfschüttelnd anhielt.
„Wir müssen eine Rast machen.“
„Ich werde schon durchhalten“, knurrte Kmarr ungehalten.
„Du schon, ich aber nicht. Wenn Du weiter so miese Laune hast, könnte in mir der Wunsch erwachen, Dich auf der Stelle zu erschlagen.“
Sie starrte ihn unnachgiebig an, bis er den Blick schließlich senkte. Langsam wich die Anspannung aus seinem Körper: „Entschuldige.“
„Kein Problem. Wenn wir uns jetzt ein Lager suchen und wenigstens einen halben Tag rasten. Wir sind ohnehin langsamer als sie. Da schadet eine zusätzliche Rast auch nicht mehr.“
Niedergeschlagen blickte Kmarr auf den Boden: „Dann suchen wir aber wenigstens einen brauchbaren Platz, der uns halbwegs trocken hält. Von Wasser hab ich fürs Erste genug.“
„Einverstanden.“
Viel mehr als eine Gruppe dorniger Büsche, über die sie eine Ölplane zogen, kam dabei nicht heraus. Wenigstens gab es darunter keinen schlammigen Matsch oder Schnee.
„Nicht gerade eine Herberge.“
„Dafür ist die Unterkunft günstig. Und jetzt lass mich die Wunden untersuchen.“
Anaya erneuerte die Verbände, war ansonsten aber mit dem Heilprozess zufrieden.
„Wenn uns nicht irgendwelche Raubtiere begegnen, sollten wir morgen gut vorankommen. Wir müssen ein Feuer machen. Es ist zu kalt, um ohne zu übernachten.“
„Mir recht.“
Sie hatte nichts anderes erwartet. Kmarr hasste Schnee und Kälte. Obwohl es um sie herum von Kreaturen wimmelte, die sich gut verborgen hielten, blieb die Rast ereignislos. Anscheinend passten sie nicht in das übliche Beuteschema der Räuber.
Nachdem Anaya ein halbes Dutzend Schlangenfrösche erlegt und zubereitet hatte, setzten sie ihren Verfolgungskurs fort.
Weit kamen sie allerdings nicht, denn schon aus der Ferne konnten sie die schlammigen Fluten eines über die Ufer getretenen Flusses erkennen, der ihnen den Weg versperrte.
„Droin und Phyria müssen den Fluss überquert haben, bevor er Hochwasser geführt hat“, mutmaßte Kmarr.
„So wie die Spuren verlaufen, ist das naheliegend.“
„Was machen wir?“
„Erst mal näher heran.“
Als das Wasser nur noch eine Bogenschussweite entfernt war, hielt Anaya, die voraus ging, an: „Ihr Verfolger ist wieder zurückgekommen und nach Osten, flussaufwärts gezogen.“
„Dann hat er es nicht über den Fluss geschafft und aufgegeben?“
„Nein, ich glaube nicht, dass er aufgegeben hat. Er war sehr schnell unterwegs.“
„Du meinst, er hatte ein bestimmtes Ziel?“
„Ja. So sieht es zumindest aus. Sieh mal, da ist ein schlammiger Pfad, dem die Kreatur gefolgt ist.“
Anaya deutete den Verlauf der Spuren entlang.
„Ein anderer Überweg?“
Sie überlegte kurz: „Das würde bedeuten, das Wesen wäre intelligent und würde sich gut auskennen.“
„Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.“
„Seit wir Phyria aufgegabelt haben, wundert mich gar nichts mehr.“
„Machen wir uns das zu Nutze. Wenn wir den Spuren folgen, sollten wir ebenfalls über den Fluss gelangen.“
Der Pfad war schmal und bestand aus wenig mehr als einer Spur klebrigen Morasts, der zum größten Teil von Schnee bedeckt war. Dennoch war es nicht besonders schwer, ihm zu folgen, denn der Fluss gab die Richtung ohnehin vor.
Der Weg erklomm langsam einen Hügel, während der Fluss im Tal zurück blieb. Daher entdeckten sie den Übergang, als sie von der Kuppe herab blickten.
Ein Gestrüpp aus verkrüppelten Bäumen und abgestorbenen Büschen bot ihnen dabei Deckung.
„Was hältst Du davon?“
„Es sieht genauso aus, wie Du vermutest“, erwiderte Kmarr leise.
Über das Tal spannte sich eine schmale Brücke mit nur einem Bogen, auf der einzelner, rechteckiger Turm den Weg versperrte. Von ihrer Position aus konnten sie das geöffnete Tor sehen und dahinter die Zacken eines zur Hälfte herunter gelassenen Fallgitters. Schießscharten auf zwei Ebenen darüber boten ausreichend Gelegenheit, unerwünschten Besuchern die Überquerung zu verweigern.
Kmarr setzte sein Auge von Szad zusammen, um einen genaueren Blick darauf zu werfen.
„Es rührt sich nichts, aber die Räume hinter den Schießscharten sind auch nicht beleuchtet. Ich kann nicht sagen, ob darin jemand lauert.“
„Wenigstens ist das Tor geöffnet. Wir sollten es riskieren. Wer weiß, wo wir die nächste Chance bekommen und ob sie besser ist als diese.“
„Vermutlich. Warten wir, bis es dunkel ist. Dann sehen sie uns wenigstens nicht kommen. Irgendwas gefällt mir daran nicht, aber ich weiß nicht was.“
„Dann sind wir schon zwei.“
Kmarr ließ sich im Gebüsch nieder, nachdem er die Plane auf dem Schnee ausgebreitet hatte. Wärmer wurde es dadurch nicht. Dafür fror nicht noch mehr Eis in seinem Fell fest. Kälte und Verletzung machten ihn missmutig und träge. Daher hatte er auch keine Schwierigkeiten damit, Anaya die erste Erkundungstour zu überlassen. Er beobachtete sie dabei, wie sie lautlos den Hügel hinab glitt. Kaum sichtbar näherte sie sich dem Wachturm. Sie hielt einen Abstand von hundert Schritten, da bei Tageslicht die Gefahr einer Entdeckung sonst zu hoch gewesen wäre.
Über zwei Kerzenlängen hinweg untersuchte Anaya die Umgebung, die Straße und den Hügel auf der anderen Seite auf Spuren. Als sie schließlich zu Kmarr zurückkam, fand sie ihn dösend vor, eine Hand auf dem Bolzenwerfer.
„Hast Du etwas entdeckt?“, fragte er sie, ohne die Augen zu öffnen.
Anaya musste grinsen, weil er sie ertappt hatte, obwohl sie sich lautlos und gegen den Wind angepirscht hatte.
„Ich bin nicht sicher. Dazu waren die Spuren zu schwach. Jemand gibt sich viel Mühe, seine Anwesenheit zu verbergen.“
„Du glaubst, es ist jemand hier?“
„Ja.“
Sie deutete auf den Wachturm: „Dort werden sie sein.“
„Sie sind organisiert, diszipliniert und gut verborgen.“
„Grenzpatrouillen?“, äußerte Kmarr verschlafen eine Vermutung.
„Sieht fast so aus, denn wen sollten Raubritter hier schon überfallen wollen?“
Träge setzte Kmarr sich auf: „Dann wäre Narfahel doch nicht gänzlich untergegangen. Und die übrig gebliebenen Bewohner wollen das wohl geheim halten. Wir müssen also noch vorsichtiger sein.“
Kurz nach Einbruch der Nacht schlichen sie lautlos den Hügel hinunter. Sie wählten einen annähernd direkten Weg, weil sie den Turm so schnell wie möglich passieren wollten.
Anaya lief ein paar Seillängen voraus, da sie bei Gefahr schneller flüchten konnte und eine unauffälligere Erscheinung war. Wie Geister glitten sie bis zum Rand des Gebäudes. Das Tor war tatsächlich geöffnet. Dahinter lag ein finsterer Durchgang mit dem teilweise gesenkten Fallgitter.
Einen langen Augenblick untersuchten sie alles auf die kleinste Bewegung oder einen Lichtschein, doch sie konnten nichts entdecken.
Schließlich huschte Anaya geduckt direkt durch das Tor in den Turm.
Kmarr spürte seine Anspannung steigen. Er hielt den Bolzenwerfer im Anschlag, bereit beim geringsten Anzeichen von Gefahr zu schießen.
Die Zeit verstrich, in der er sich fragte, warum jemand in einem solch lebensfeindlichen Landstrich leben wollen sollte, und warum sie sich versteckten – oder besser vor wem.
Anayas Auftauchen riss ihn aus den Gedanken. Sie winkte einmal kurz, dann verschwand sie wieder im Durchgang.
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