„Es scheint, er ist ehrenvoll gestorben. Wie muss ich mir den Gazakra vorstellen? Hundert Klauen hat er doch hoffentlich nicht wirklich?“
„Nein. Er ist so groß wie Drakkan, hat sechs Arme mit sieben Krallen an jeder Hand. Außerdem hat er überall Dornen, die ihm aus der Haut wachsen. Sie können sich durch die Schatten bewegen, ebenso wie Drakkan.“
„Hässlich.“
„War es auch. Wir waren alle so geschockt, dass wir dem Kapitän unvorsichtigerweise erzählt haben, was los war. Er ist ein edler Mann und stand zu seinem Wort. Zuerst ging auch alles gut, doch als wir uns der Küste näherten, tauchten kleinere Schiffe auf, Cousins des schwarzen Monsters, die uns bedrängten. Der Hafen, den wir eigentlich anlaufen wollten, war blockiert, also mussten wir ein anderes Ziel wählen.“
Sie machte eine kurze Pause. Die Erzählung strengte sie hörbar an. Es kostete sie viel Überwindung.
Schließlich seufzte sie und fuhr fort: „Egal wohin wir uns wandten, überall waren die Schiffe aus Morak bereits eingelaufen oder tauchten in der Ferne auf. Hätte der Kapitän nicht einen alten Schmugglerhafen gekannt, hätten sie uns wohl auch erwischt. So legten wir dort nachts an und schlichen uns von Bord.“
„An der Küste zwischen den Wolkeninseln und Rellinn gibt es viele Möglichkeiten an Land zu gehen. Die haben wir auch schon häufiger genutzt. Hat euch das lange Schutz geboten?“
Phyria überlegte eine Weile, bevor sie antwortete: „Ich denke schon“, sagte sie schließlich: „Da wir selbst nicht so genau wussten, wo wir gelandet waren, waren unsere Bewegungen wohl nicht vorhersehbar. Wir haben die Städte gemieden und sind über Land und nachts gereist. Irgendwann haben wir uns dann in einem kleinen Nest in Orenoc getrennt. Meine Gruppe sollte zum Schattenwald reisen, und die andere hierher.“
Droin machte ein finsteres Gesicht: „Dann sind sie vermutlich genau in die Arme von Moraks Armee gelaufen, als die Blutmark überrannt wurde.“
„Ich fürchte auch. Meine Freundin Alissa war dabei. Hätten sie es geschafft, hätten wir hier Spuren finden müssen.“
Sie hielt inne, als der Naurim stehen blieb. Mitfühlend legte er ihr eine Hand auf das unverletzte Bein: „Noch ist ihr Schicksal nicht gewiss. Ich werde den Klan bitten, Nachrichten aus Denelorn zu sammeln. Es wird eine Zeit dauern, aber wir werden erfahren, was geschehen ist.“
„Danke.“
Ihre Stimme zitterte leicht, als sie ihre Hand auf seine legte.
„Tu mir noch einen Gefallen: Finde heraus, wer verantwortlich ist. Wenn ich weiß, was passiert ist, wird es einfacher, sie zu finden und ihnen alles heimzuzahlen.“
„Rache bringt Dir nichts ein, doch ich verstehe Deine Motive. Wie willst Du dafür bezahlen? Nachrichten sind teuer und Du bist nicht reich.“
Phyria grübelte eine Weile, dabei sah sie ihre spärlichen Besitztümer durch: „Was ist, wenn ich Dir und Deinem Klan die Karten überlasse, sobald ich sie nicht mehr brauche?“
Wieder blieb Droin stehen. Er legte seinen Kopf sehr bedächtig auf die Seite, als er antwortete: „Das ist ein überraschender Vorschlag. Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber Du hast Recht. Sie sind in der Tat sehr wertvoll. Unsere Gelehrten werden Dir einen sehr guten Preis machen. Du wirst neue Ausrüstung bekommen, Nachrichten, eine eigene Unterkunft bei uns. Und meine Dienste für eine ganze Weile. Ein guter Handel.“
„Wie kommt es eigentlich, dass Dein Volk so stur auf einer Bezahlung aller Taten besteht? Warum tut ihr nichts ohne eine Gegenleistung dafür? – Abgesehen davon, dass es sehr einträglich ist?“
Nun war es an Droin, einen Moment über die Antwort nachzudenken. Er tat dies, während er den Kompass weiter voran schob. Die Frage war nicht neu, sie tauchte immer wieder auf. Für ihn war die Antwort eindeutig und einfach. Für sein Volk als Ganzes war die Antwort etwas schwieriger zu geben.
„Ehe ich Dir darauf eine Antwort gebe, lass mich zuerst Deine Geschichte zu Ende hören.“
„Also schön.“
Sie berichtete ausführlich über die Erlebnisse bei der Durchquerung von Orenoc nach Gi’tay. Die Überfälle und Hinterhalte, vergiftetes Essen, Attentäter, falsche Anschuldigungen beim Dorfschulzen, oder wer immer sonst für eine Siedlung sprach, Pferde wurden gestohlen, Gasthöfe abgebrannt, Brunnen versalzen.
„Egal was wir unternahmen, nichts gelang. Einer nach dem anderen erlag den feigen Attacken. Als sie schließlich angriffen, waren wir zu schwach, ihnen zu widerstehen.“
Wut und Verzweiflung waren in ihrem Bericht fast greifbar. Immer wieder musste sie Pausen machen, um sich zu sammeln.
Droin verstand sie nur zu gut. Auf diese Weise hatte er selbst zusammen mit den anderen manche Räuberbande zur Strecke gebracht. Doch das verschwieg er ihr vorsichtshalber.
„Eure Feinde haben eine geschickte Strategie angewendet“, sagte er stattdessen: „Trotzdem bist Du entkommen.“
Sie nickte: „Bis nach Gi’tay waren wir noch fünf, aber außer mir waren alle verwundet oder krank.“
„In der Stadt haben wir Glück gehabt. Wir konnten Pferde und Proviant erwerben und einen Führer engagieren, der uns durch den Sumpf gebracht hat.“
„Wie haben sie euch denn dann doch noch eingeholt?“
„Gar nicht. Das Schwein hat uns direkt in ihr Lager geführt.“
„Nur weil die Anderen sich geopfert haben, konnte ich entkommen.“
Tränen rannen ihr über die Wangen, doch in Droins Ohren klang sie hauptsächlich wütend.
„Ich habe ihn zu Asche verbrannt und bin geflohen. Was danach passiert ist, weißt Du.“
Sie sah ihn direkt an, als er nickte. Es hatte sie Kraft gekostet, die Geschichte zu erzählen. Dennoch fühlte sie sich erleichtert.
Ein winziges Stück von der Last, die sie mit sich trug, war von ihr abgefallen. Während der Erzählung war ihr bewusst geworden, dass sie keine Schuld am Tod ihrer Kameraden und Freunde trug. Sie hätte wenig tun können, um etwas zu ändern, und am Ende hatte sie nur dank eines Zufalls überlebt, der sie in den Weg von Drakkan Vael geführt hatte.
Das machte die Erinnerungen nicht weniger schmerzlich, es machte sie nur weniger allgegenwärtig. Heimlich fragte sie sich, was sie wohl tun würde, wenn es ihr tatsächlich gelänge, die Siegel zu erneuern.
Weil ihr darauf keine Antwort einfiel, verdrängte sie den Gedanken schließlich wieder. Stattdessen wandte sie sich Droin zu, der stoisch den Kompass weiter schob, keinen Augenblick die Umgebung aus den Augen lassend.
Er war für sie noch derjenige, den sie am leichtesten verstand. Nur die seltsame Kultur der Naurim, für alles Bezahlung zu verlangen, wollte ihr nicht so richtig in den Schädel. Sie erinnerte Droin an ihre Frage.
Wieder dauerte es, bis er antwortete, und als er es tat, wirkten seine Worte wohlüberlegt, so als hätte er die Antwort schon häufiger gegeben.
„Es ist nicht einfach, die Frage zu beantworten. Für mich, in einem gefährlichen Beruf ist es noch ziemlich simpel: Ich riskiere ständig mein Leben. Da wäre es reichlich dumm, keine Gegenleistung zu verlangen. Gleiches gilt für Kaufleute, Handwerker, sogar Künstler und Gelehrte. Keiner käme auf den Gedanken, ohne Lohn zu arbeiten.“
„Schon, aber auch für einen Gefallen? Einen Freundschaftsdienst?“
„Ja“, fuhr er fort: „Wenn man jemanden um etwas bittet, erwartet oder erhofft man sich eine Gegenleistung, ohne selbst etwas dafür zu tun. Aber die erbetene Leistung hat dennoch einen bestimmten Wert.“
„Ist es denn nicht so, dass ich um etwas bitte, gerade weil ich es nicht selbst kann?“
„Sicher. Das gilt jedoch auch für einen Stuhl, den Du von einem Tischler kaufst oder ein Bier, welches Du in einer Taverne bestellst. Eine Bitte ist eine Frage nach einer Leistung, ohne dafür zu bezahlen.“
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