1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 »Ja. Ich wohne nicht weit von hier, auf der anderen Seite der Seine.« Seine Stirn legte sich in Falten, als ob ihm gerade ein rätselhafter Gedanke in den Sinn kam. »Genaugenommen wohnte ich da«, fuhr er fort. »Entschuldigen Sie, aber welches Jahr haben wir?«
Matthew verschluckte sich an dem Wasser, das er gerade trinken wollte. Der folgende Hustenanfall bewahrte ihn zumindest davor, sofort antworten zu müssen. War der Mann vielleicht doch nicht mehr ganz richtig im Kopf? Oder hatte sich das Leben gerade in einen Science-Fiction-Film verwandelt? Matthew erwartete fast, dass Dupoit ihn als nächstes nach Sarah Connor fragen würde.
»Ist das Ihr Ernst?«, entfuhr es ihm, und noch im selben Augenblick biss er sich auf die Lippe und bereute die Frage. »Ich meine: Wissen Sie das nicht? Können Sie sich nicht erinnern?«
»Nein, leider nicht.« Dupoit wirkte keinesfalls gekränkt. Wahrscheinlich hatte er solch eine Reaktion erwartet. Das sprach zumindest dafür, dass er nicht völlig verrückt sein konnte.
»Es ist 2012.« Matthew warf einen Blick auf die Datumsanzeige seiner Uhr. »Mittwoch, der 6. Juni, um genau zu sein«, fügte er hinzu.
Der nachdenkliche Ausdruck in Dupoits Augen wich nun blankem Entsetzen. »Mein Gott«, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. »Dreißig Jahre schon.«
Nun beugte Matthew sich vor. »Was meinen Sie?«, fragte er.
Der Mann blickte auf. Er war merklich bleich im Gesicht und konnte kaum verbergen, dass ihm Tränen in den Augen standen. Als er sprach, klang seine Stimme plötzlich sehr brüchig.
»Ich kann Ihnen das nicht erzählen. Sie werden es mir sowieso nicht glauben.« Seine Lippen zitterten leicht. »Ich kann es ja selbst kaum glauben.«
Jetzt wollte Matthew die Geschichte natürlich unbedingt hören. »Nun, nach dem, was ich die letzten Tage durchgemacht habe«, sagte er, »bin ich mir sicher, dass mich nichts mehr wirklich schockieren wird.« Er musste unwillkürlich lächeln. Erinnerungen blitzten auf, wie seine Mutter ihm Lewis Carroll vorgelesen hatte, als er noch klein war. »Und sollte man nicht noch vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge glauben?«
Matthew meinte, ein leichtes Lächeln um Dupoits Mund spielen zu sehen. Zumindest wirkte er jetzt nicht mehr so, als ob er jeden Augenblick bewusstlos werden könnte.
»Nun, vielleicht schulde ich Ihnen tatsächlich eine Erklärung. Vor dem Morgen kann ich sowieso nichts unternehmen.« Er zögerte. »Aber sind Sie sich da ganz sicher? Es wird lange dauern.«
Matthew lehnte sich wieder zurück und lachte. »Wissen Sie, mein Leben hier hat sich sowieso schon in Nichts aufgelöst. Meine Freundin ist weg und mit ihr auch mein kleiner Freundeskreis hier, auf den wird sie nämlich genauso Anspruch erheben wie auf ihre scheußliche Bettwäsche. Morgen werde ich also meinen furchtbaren Job kündigen. Ich werde alles packen, meine Erinnerungen an diese Stadt so gut wie nur möglich begraben und den Umzug nach London vorbereiten.« Oh ja, in eine moderne Wohnung mit niedrigen Decken und einer echten Heizung.
Er schlug die Beine übereinander und zündete sich noch eine Zigarette an.
»Was mich angeht – ich habe die ganze Nacht Zeit.«
***
Über dem weiten Hügelland versinkt die Sonne allabendlich mit der Konsequenz eines wiederkehrenden Traumes. Die wenigen Wolken glimmen in zarten Rottönen vor einem Himmel, dessen klares Blau sich dunkelnd der Nacht entgegenschleicht. Die ersten Sterne stehen schon hoch, aber ihre Konstellationen sind ihm vollkommen unbekannt.
Von einer Anhöhe aus – seiner Anhöhe, denn er sitzt hier an jedem einzelnen dieser unzähligen Abende – beobachtet er, wie der Nebel über die hohen Gräser zieht und die Ruine eines kleinen Turmes erreicht. Er war nur ein einziges Mal zu diesem Turm hinabgestiegen, im freundlichen Licht eines Vormittags, nachdem der Nebel versunken und die Sicht wieder klar war. Aber es war tatsächlich nur eine Ruine. Das Dach war längst eingefallen und bis auf einige faulende Holzmöbel konnte er nichts hinter den bröckelnden Mauern finden. Die Zeit hatte gleichgültig an Steinen und Holz gearbeitet. Und das an einem Ort, an dem es sonst keine Zeit zu geben scheint. Wie lange ist er schon hier? Und was genau bedeutet hier ?
Abgesehen von dem Turm gibt es keine Gebäude in der Umgebung. Er hat viele ausgedehnte Wanderungen unternommen, aber stets darauf geachtet, bei Einbruch der Nacht wieder auf der Anhöhe zu sein. Zwischen den Grashalmen zu sitzen, den Rücken an einen großen und angenehm flachen Stein gelehnt, gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit, das er auf seinen Erkundungsgängen niemals spürt. Seltsam in diesem kargen und so leeren Land.
Der Wind frischt auf und es wird merklich kühler. Er würde gerne ein Feuer machen, aber es gibt in der näheren Umgebung kein Holz und den Turm möchte er nicht noch einmal betreten. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass er sowieso keine Streichhölzer hat. Sicher, er könnte lernen, wie man ein Feuer auf andere Art entfachen kann. Zeit genug hätte er.
Es gibt auch kein Essen oder wenigstens Wasser. Seit er hier ist, plagen ihn ein nie gekannter Hunger und Durst, auch wenn es seinem Körper nichts auszumachen scheint, dass er weder das eine noch das andere stillen kann. Manchmal – wenn er Glück hat an zwei, drei Tagen die Woche – regnet es, und obwohl er durchnässt noch stärker friert, öffnet er begierig den Mund, um wenigstens den schlimmsten Durst zu löschen. Wenn er doch nur ein paar Eimer oder Flaschen hätte ...
Alte Zeilen kommen ihm in den Sinn: ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Ozean. Der sanfte Wind täuscht nicht über die Flaute hinweg.
Die Nächte sind lang unter dem unbekannten Sternenhimmel. Allein der Alabastermond wirkt vertraut, auch wenn er jede Nacht als Vollmond kommt und nur eine flache Bahn über den Himmel zieht, niemals hoch über dem Horizont. Er verbringt die dunklen Stunden mehr dämmernd als schlafend, mit halbgeöffneten Augen in den Himmel blickend, wo sich manchmal eine Sternschnuppe zeigt, silbern blitzend oder in einem kräftigen Jadegrün. Dann sinkt er etwas tiefer in den Halbschlaf, während er auf den Morgen wartet.
Er ist allein und ohne Kompass.
Sarah blickte sich in dem kleinen Raum um. Ihr erster Eindruck war der von Leere gewesen. Aber Kargheit traf es besser. In dem Zimmer befanden sich ein Schreibtisch und ein Stuhl. Sonst nichts. Die Wände waren kahl, bar jeden Details. Keine Bilder, keine Lichtschalter, keine Tapete. Die vielleicht einst weiße Farbe wirkte schmutzig. Das wenige Licht, das es schaffte, in den kleinen Raum vorzudringen, kam von einem winzigen vergitterten Fenster, das sich fast in Höhe der Decke an einer Seite des Zimmers befand.
Sarah näherte sich langsam dem Schreibtisch. Der Raum kam ihr trostlos vor, als wolle er ihr eine traurige Geschichte erzählen und fände nur nicht die richtigen Worte. Der Schreibtisch war aus dunklem Holz und übersät mit Kerben und Brandlöchern. Das Ganze hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld als mit dem Mobiliar eines Schriftstellers. Sarah erschauerte bei dem Anblick, ohne genau zu wissen, weshalb.
Neben den Einkerbungen und Löchern hatte auch blaue Tinte ihre Spuren auf dem Schreibtisch hinterlassen. Auf seiner Platte bildeten die unterschiedlich geformten Flecken ein Muster, dessen Bedeutung nicht zu erraten war. Oder doch?
Ein paar von ihnen zogen mit einem Mal Sarahs Aufmerksamkeit auf sich. Es war, als würden sich unter den Flecken Buchstaben verbergen, die grob übermalt worden waren. Sie versuchte, die Schriftzeichen darunter zu erraten und kam zu dem Schluss, dass es sich bei zweien um ein R handeln müsse. Ein weiterer könnte einmal ein A gewesen sein. Und in der Zeile darüber – noch ein R? Und davor ein O? Sarah hielt inne. Die Buchstabenkombination kam ihr vage bekannt vor. Sie dachte angestrengt nach, aber die Erinnerung ließ sich nicht greifen.
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