1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Um sich abzulenken und dem Gedanken Zeit zu geben, sich unbewusst in ihr zu formen, unterzog sie den Schreibtisch und auch den Stuhl einer näheren Prüfung. An dem Stuhl war nichts Besonderes. Einfach, hölzern, grob geschnitzt. Die Sitzfläche war sichtbar abgenutzt, was Sarah stutzig machte. Ein derart abgenutzter Holzstuhl war ihr noch nicht untergekommen. Er musste über Jahrhunderte hinweg in Gebrauch gewesen sein! Die Universität von Paris war zwar alt, aber so alt? Vermutlich war der Stuhl ursprünglich nicht für diesen Raum angefertigt, sondern erst später hierher geschafft worden.
Sarah wandte sich dem Schreibtisch und vor allem der einzelnen Schublade zu, die direkt unter der Tischplatte mittig angebracht war. Das Schloss schien verbogen, so als wäre schon einmal jemand hier gewesen und mit Gewalt in die Geheimnisse der Lade eingedrungen. Dieser Gedanke traf Sarah unvorbereitet und auch der nachfolgende warf sie für einen kurzen Moment aus der Bahn. Ihr Großvater! Wie hatte sie nur so blind sein können?
Seit Monaten hatte sie fast täglich einen Blick auf die drei Notizzettel geworfen, die eingerahmt in ihrem Flur hingen. Die Notizen ihres Großvaters, die sie aus dem Fundus der Universitätsbibliothek ungefragt entwendet hatte. Und dort – auf einem der Papiere – standen einzelne Buchstaben, die ihr Großvater notiert hatte. Deshalb war ihr die Buchstabenfolge so bekannt vorgekommen! Auf dem Notizzettel stand Le Morte Darthur . Sarah merkte, wie ihr Herz anfing, schneller zu schlagen. War das möglich? Hatte sie endlich eine Spur gefunden, die es ihr erlaubte, die Nachforschungen zu verfolgen, die ihr Großvater vor seinem Verschwinden betrieben hatte? Eine Spur, der sie – wie damals ihr Großvater – nachgehen konnte? Würde sie nun endlich erfahren, was aus ihm geworden war?
Sarah zwang sich selbst zur Ruhe. Zwar hatte sie – vielleicht – einen Teil der Notizen ihres Großvaters entschlüsselt, aber noch war nicht klar, ob sie das wirklich weiter brachte. Sie wusste ja nicht einmal, wie viele solcher Notizen es ursprünglich gegeben hatte! Die drei losen Zettel, die sie, nun ja, gefunden hatte, waren sicher nicht alles gewesen.
Trotzdem nahm sie sich vor, diesem Hauch einer Fährte nachzugehen. Sie zog ihr eigenes Notizbuch hervor und schrieb den Titel von Sir Thomas Malorys Buch hinein, wobei sie die Buchstaben, die sie meinte, unter den Tintenflecken erkannt zu haben, unterstrich.
Anschließend wandte sie sich wieder der Schreibtischschublade zu. Mit wenig Hoffnung, darin etwas zu finden, zog sie den Schub langsam heraus und blickte gespannt hinein. Sie behielt recht damit, dass kein Gegenstand darin lag. Dennoch aber war die Lade nicht direkt leer. Auf den hölzernen Unterboden hatte irgendjemand mit Tinte eine Skizze gezeichnet, die Sarah nun verwirrt ansah. War das eine Karte? Wenn ja, hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie zum besseren Verständnis mit Namen zu versehen.
Dort, die gestrichelte Linie könnte eine Grenze darstellen. Und der Strich, der sich in Schlangenlinien um sie herum bewegte war dann vielleicht ein Fluss? Sarah merkte schnell, dass sie mit dieser Karte nichts anfangen konnte. Dennoch wollte sie diesen Hinweis nicht einfach unbeachtet zurücklassen, also übertrug sie die Zeichnung so genau wie möglich in ihr Notizbuch und schloss anschließend die Schublade.
Zum Nachzeichnen der Karte hatte sie auf dem hölzernen Stuhl Platz genommen, der trotz seiner harten Sitzfläche erstaunlich bequem war. Nun blieb sie noch einen Augenblick lang sitzen und verinnerlichte die Atmosphäre, die in diesem kargen, dämmerigen Zimmer herrschte. War hier tatsächlich jemand gesessen, stundenlang vielleicht, um zu schreiben? Sarah schloss die Augen und rief sich den Notizzettel ihres Großvaters in Erinnerung, auf dem Malorys Buchtitel vermerkt war. Dort stand noch etwas anderes, sie sah es im Geiste direkt vor sich:
Theorie:
Arbeitsplatz eines Weltenschreibers, Malorys Muse?
Schöpferische Unterstützung bei Arthus-Saga?
Frage:
Warum die Hinweise auf diesen Ort in Coleridges Werk?
Nächster Schritt:
Malorys Darthur unter die Lupe nehmen
Sarah dachte angestrengt nach. Natürlich war sie diesem Hinweis nachgegangen. Unter den Büchern ihres Großvaters war sie auch auf Malorys Werk gestoßen und hatte es zweimal gründlich gelesen. Ihrer Meinung nach hätte das nicht nur aufgrund des ungewohnten Schreibstils Anerkennung verdient gehabt, sondern auch wegen der nicht allzu knapp bemessenen Seiten. Aber Fehlanzeige. Sie hatte keinerlei Hinweise in dem Buch gefunden. War es ihrem Großvater auch so ergangen? Hatte diese Spur ins Leere geführt? Auf seinem Notizzettel hatte er jedenfalls nichts weiter festgehalten.
Langsam erhob sich Sarah und ging zurück in Richtung der versteckten Tür, die sie in diesen Raum geführt hatte.
Ein letztes Mal wandte sie sich um und erfasste das ganze Zimmer in seiner klösterlichen und geheimnisvollen Kargheit mit einem nachdenklichen Blick. Der Arbeitsplatz eines Weltenschreibers? Was zum Teufel war ein Weltenschreiber? Und konnte wirklich irgendjemand in einem solchen Raum, der weit mehr Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle als mit einem Büro hatte, arbeiten?
Sarah verließ das Zimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Sie verschwand vollständig im Muster der Tapete, während der Raum dahinter in der Vergangenheit verschwand.
Sarah blieb in Gedanken versunken stehen. Um sie herum war alles still. Es musste bereits später Abend sein, die Studenten waren sicherlich schon alle gegangen und die meisten Lehrkräfte ebenfalls. Sie hoffte nur, dass die Eingangstür so eingestellt war, dass man das Gebäude von innen jederzeit verlassen konnte, auch wenn man keinen Schlüssel besaß.
Kurz erwog sie, nach Hause zu gehen, aber die Aussicht auf eine leere unordentliche Wohnung war nicht besonders verlockend. Außerdem wusste sie, dass sie der Schlaf noch eine ganze Weile meiden würde.
Also – was blieb ihr dann? Wie von selbst setzte sie sich in Bewegung, ihre Schritte richteten sich auf das gewohnte Ziel: die Bibliothek. Als ihr bewusst wurde, wohin sie ging, folgte auch die nächste Erkenntnis.
Sie hatte im falschen Buch nach Hinweisen gesucht! Malorys Morte Darthur war zwar der richtige Titel, aber die Ausgabe ihres Großvaters konnte ihr nicht weiterhelfen. Auch Coleridges Gedicht hatte erst in der Bibliotheksausgabe seinen versteckten Inhalt preisgegeben. Was, wenn dies auch bei Malory der Fall war?
Sarah beschleunigte ihre Schritte und stand schon bald vor der Tür zur Bibliothek.
Verschlossen, natürlich! Die Bibliothekare waren längst in den verdienten Feierabend verschwunden. Aber Sarah hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Während ihres Studiums hatte sie eine Zeitlang in der Bibliothek ausgeholfen und sich auf diese Weise ein bisschen Geld hinzuverdient. Den Schlüssel hätte sie danach eigentlich wieder abgeben sollen, aber irgendwie fand sie den Gedanken unerträglich, sich von einem Bibliotheksschlüssel trennen zu müssen. Deshalb hatte sie ihn vor der Rückgabe heimlich nachmachen lassen und die Kopie behalten. Vorgeblich als Andenken und weil sie das insgeheime Wissen genoss, jederzeit Zugang zu den Büchern zu haben. Tatsächlich gebraucht hatte sie den Schlüssel bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Sarah holte ihren Schlüsselbund aus der kleinen braunen Umhängetasche und suchte nach dem Objekt, das nun zu seinem ersten Einsatz kommen würde. Sie fand den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Als sie ihn drehte und die Tür sich öffnen ließ, verspürte sie Erleichterung. Dieses Hindernis wäre überwunden.
Die Bibliothek war dunkel und Sarah brauchte einen Moment, um diesen ungewohnten Anblick mit der Bücherei in Einklang zu bringen, die sie bis ins Detail kannte. Das nächtliche Licht, das durch die großen Fenster drang, hüllte die in Regalen aufgereihten Bücher in einen gespenstisch schimmernden Mantel.
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