Ihrer Meinung nach handelte es sich um kein besonders gutes Gemälde, die Farben waren viel zu kitschig gewählt, so dass der beabsichtigte romantische Sonnenuntergang eher zu einem Stelldichein der unterschiedlichsten Lila- und Rosatöne wurde. Aber da war es! In einem verstaubten, goldenen Rahmen zeigte es ein Schiff, das über ein von Wellen zerrissenes Meer fuhr, hinein in den wartenden rosaroten Sonnenuntergang.
Sarah stand vor dem Bild und starrte die kitschige Farbgebung an. Da war sie also. Aber was nun?
Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass sie den Hinweis richtig verstanden hatte und sich an genau dem Ort befand, an den sie irgendwer bringen wollte. Wer?, fragte eine kleine Stimme irgendwo in ihrem Inneren, die sie erst einmal erfolgreich verdrängte. Alles zu seiner Zeit. Die junge Frau machte sich daran, das Bild genau unter die Lupe zu nehmen.
Da waren die sturmgepeitschten Wellen, deren Schaumkronen sich in perfekt arrangierter Harmonie rings um das Schiff brachen. Das Boot selbst war eines jener alten Segelschiffe, die einem sofort vor Augen standen, wenn man an eine romantisch verklärte Vergangenheit dachte, in der Piraterie nicht brutal und habgierig, sondern verwegen und ehrenhaft war. Aber das, was das gesamte Bild dominierte, war der Himmel. Der stürmische Sonnenuntergang, der bereits in den Wellen zu erahnen war, fand hier seinen Höhepunkt.
Zerrissene Wolken, die von den letzten Lichtfetzen des Tages durchdrungen wurden. Die allgegenwärtige Farbe war Rosa in unterschiedlichen – und oft auch undenkbaren – Variationen, von einem Rosa mit leichtem Blaustich bis hin zu einem mit orangenem oder rostbraunem Schimmer. Nicht nur, dass diese unglaubwürdige Farbgebung den Himmel in ihrer Gewalt hatte. Sie spiegelte sich auch in den Wellen wider und – in Sarahs Augen die größte Ungerechtigkeit – selbst die armen Matrosen auf ihrem hölzernen Segelschiff blieben nicht von ihr verschont.
Die junge Frau ließ ihren aufmerksamen Blick mitleidig über die schemenhaft dargestellten Matrosen wandern, die sich auf verschiedenste Weise an Bord des Schiffes betätigten und tapfer versuchten, nicht nur mit der grauenhaft überwältigenden Farbgebung, sondern auch mit Wind und Wetter zurecht zu kommen. Ihre Augen blieben schließlich an dem Matrosen hängen, der ihrer Meinung nach die schlimmste Aufgabe zu erfüllen hatte: In dem Korb am oberen Ende des größten Mastes stand er dem rosaroten Himmel am nächsten und war dafür verantwortlich, in der kitschigen Umgebung nach so realen Gefahren wie Untiefen oder feindlichen Schiffen Ausschau zu halten.
Der nur verschwommen gemalte Mann schien seine Arbeit aber dennoch ernst zu nehmen und auch gut darin zu sein – denn sein ausgestreckter rechter Arm wies warnend in die Ferne. Besser gesagt, nach hinten. Sarah stutzte. Der gemalte Arm zeigte nach rechts aus dem Bild, während das Schiff ganz offensichtlich nach links unterwegs war. Was nur hatte das zu bedeuten? Wurden die armen Matrosen etwa auch noch verfolgt? Oder steckte da womöglich noch etwas anderes dahinter?
Auf einmal spürte Sarah, wie sich Aufregung in ihr breitmachte. Das war er! Der Hinweis, nach dem sie hier gesucht hatte! Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, ließ sie ihre Finger über den rechten Rand des Bildes gleiten, genau dort, wohin sie der ausgestreckte Arm des kleinen gemalten Matrosen führte.
An der Seite des Bilderrahmens fand sich nichts, aber als Sarah ihre Finger vorsichtig hinter das Bild gleiten ließ, stießen sie auf einen winzigen Hebel, der dort an der Wand befestigt war. Ein kurzes Zögern, dann zog die junge Frau den kleinen Widerstand zu sich nach vorne, entgegengesetzt zu der Richtung, in die er bis dahin gezeigt hatte.
Für einen kleinen, unsicheren Moment dachte Sarah, sie hätte sich geirrt. Hätte sich verrannt in seltsamen Hinweisen, die sie gemeint hatte, aus Büchern herauszulesen. Aber dann hörte sie es. Ein leises, gleitendes Geräusch, das seinen Ursprung irgendwo hinter der Wand zu haben schien, in der sich zu Sarahs Erstaunen eine schmale dunkle Öffnung zu bilden begann. Rein gar nichts hatte vorher darauf hingewiesen, dass sich hinter dieser Tapete ein geheimer Durchgang befand. Ein geheimer Durchgang – wohin?
Sarah hielt sich nicht lange mit dieser Überlegung auf und auch innere Mahnungen zur Vorsicht schob sie rigoros beiseite. Nun war sie schon hier. Sie war endlich auf irgendetwas gestoßen, nachdem sie so lange Zeit einem Phantom hinterher gerannt war. Nun wollte sie gefälligst auch wissen, was hinter dieser geheimen Tür lag! Mit einem tiefen, entschlossenen Atemzug näherte sie sich dem Durchgang und betrat gebückt den dahinter liegenden Raum.
//Es war in Bewegung. Nicht aus freiem Willen. Irgendetwas zerrte es vorwärts, ließ keinen Zweifel daran, dass es zu folgen hatte. Nie zuvor war es einem solchen Zwang ausgesetzt gewesen. Zwischen ihm und seinem anderen Ich hatte eine stille Verbundenheit geherrscht, begründet auf Respekt, Treue und Freundschaft. Es war eine gleichberechtigte Partnerschaft gewesen. Aber hier ... hier war alles anders. Drohungen, Schmerz, Hass. Es wurde nicht gefragt, sondern gezwungen. Nicht gebeten, sondern befohlen. Alles war trüb, sinnlos und leer. Bar jeden positiven Gefühls. Es wurde als Sklave gehalten. Wusste er denn nicht, was es in Wirklichkeit war?//
Der Geruch von Essen, frischem Kaffee und Tabak hing träge in der milden Nachtluft und erfüllte die kleinen Gassen entlang des Flussufers. Dank des ungewöhnlich warmen Frühsommertages saßen die Menschen auch weit nach Mitternacht noch auf den Terrassen der Cafés oder flanierten unter den Bäumen im Schein der Straßenlaternen am Wasser entlang. Paris zeigte sich in diesen Juninächten als verträumte Stadt jenseits aller Zeit und Hektik.
Matthew saß am Ufer der Seine unter einer Kastanie und stellte fest, dass er wieder nüchtern war. Er hatte sich den Platz auf der Bank am frühen Abend gesichert, ausgestattet mit einer Flasche Rotwein, einer Schachtel Zigaretten und dem festen Vorsatz, ihn nicht vor dem nächsten Morgen zu räumen. Tatsächlich hatte er sein Vorhaben nur zweimal kurz unterbrochen. Nach einer knappen Stunde – das leere Starren auf das Wasser hatte sich doch als noch eintöniger erwiesen, als er angenommen hatte – war er in den Kiosk gegenüber gegangen, um sich ein Exemplar des Le Mercure zu kaufen. Gegen elf Uhr hatte er sich schließlich zwei Becher Kaffee organisiert, die ihm beim Ausnüchtern helfen sollten.
Wenn seine Freunde zu Hause in England ihn fragten, warum um Himmels Willen er nach fünf Jahren seine Tage immer noch in Paris verbrachte, pflegte Matthew mit einem etwas schiefen Grinsen zu antworten »Ich kam wegen des Jobs, aber ich bleibe wegen des guten Essens.« Die Wahrheit sah etwas anders aus. Mary war der einzige Grund gewesen, warum er sich immer noch auf der falschen Seite des Kanals aufhielt. Und jetzt, da sie ging, waren ihm Job und Essen ziemlich egal. Normalerweise würde er sich unter der Woche auch nicht betrinken, anstatt pflichtbewusst überflüssige Präsentationen für seinen Vorgesetzten vorzubereiten.
Matthew blickte auf die Uhr. Halb zwei Uhr morgens. Sie war wahrscheinlich schon vor vier Stunden damit fertig gewesen, ihre Sachen aus der Wohnung zu holen, aber er wollte noch nicht dorthin zurück. Die Bank würde es noch etwas länger mit ihm aushalten müssen.
Der Wind frischte auf und trieb einige Blätter an der Bank vorbei. Eine vergessene Plastiktüte schwebte träge hinterher. Matthew betrachtete den nächtlichen Himmel. Die Lichter der Stadt wischten alle Sterne hinweg und ließen nur eine glühende Dunkelheit zurück. Noch war nichts von den Wolken zu sehen, die der Westwind von der Kanalküste heranbrachte, aber der Wetterbericht hatte für den Morgen kräftige Regenschauer angekündigt. Es hatte etwas Tröstliches, dass diese Wolken aus Richtung Großbritannien kamen. Wenigstens würde sich das Wetter Matthews Stimmung angleichen und er müsste auf dem Weg ins Büro keine händchenhaltenden Paare im Sonnenschein sehen.
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