Jahrzehntelang hatte er sich Gedanken über den Grund dieser Entführung gemacht. Wozu brauchte jemand sein Buch? Und nun hatte er zumindest eine leise Ahnung davon. Aber diese Gedanken waren noch reine Spekulation. Er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Nach dem, was er gestern in der Bar gehört hatte, kannte er nun die Art und Weise, wie jemand Teile dieser Welt manipulierte. Ein Laden, der wie eine gewöhnliche Bäckerei aussah und Menschen, die ihn ahnungslos betraten, um dann für immer darin zu verschwinden … Alfred blieb abrupt stehen. Irgendeine zaghafte Erinnerung wollte verzweifelt angehört werden. Er stutzte. Da war doch etwas gewesen … erst vor kurzem … Unbewusst fuhr er sich mit der Hand an die Stirn und begann, kreisende Bewegungen über seiner Schläfe zu vollziehen.
Er erinnerte sich an ein Gefühl. Ein Gefühl, das ihn unsicher werden ließ. Er war eine Straße entlang gegangen, als ihn dieses Gefühl überkam. Eigentlich war er nur zwei Menschen gefolgt, deren Beziehung zueinander er sich näher anschauen und für sein Buch verwenden wollte. Und dann war es plötzlich über ihn gekommen. Etwas Undefinierbares, Wurzelloses. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass irgendetwas falsch war. Aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, was.
Alfred erinnerte sich vage, dass er in seiner damaligen Verwirrung mit jemandem zusammengestoßen war – mit einer Frau? – und dann weitergeeilt war, ohne den Grund für seine seltsamen Gefühle verstanden zu haben.
Alfred ließ die Hand sinken. Seine Gedanken rasten. Warum nur war er so schnell von dort verschwunden? War das etwa beabsichtigt gewesen? Hatte ihn etwas dazu gebracht, diesen Ort rasch wieder zu verlassen? War das vielleicht eine Art Sicherheitsvorkehrung gewesen, um die geheimen Machenschaften, die dort vor sich gingen, zu schützen? Und wusste er denn jetzt im Nachhinein noch, wo dieses dort war?
Er ging in Gedanken die Schritte durch, die er an jenem Tag getan hatte und entschied, dass er die Stelle wiederfinden würde. Und wenn ihn nicht alles täuschte, musste sich dort ein weiterer veränderter Laden befinden. Ein Ort, der die Menschen genauso hinters Licht führte – und schlimmstenfalls verschwinden ließ – wie jene Bäckerei. Und vielleicht war dieser getarnte Laden noch immer das, wozu er gemacht worden war. Dann konnte Alfred dort vielleicht etwas herausfinden, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde.
Der Weltenschreiber spürte förmlich, wie sich die Hoffnung erneut in ihm regte. Und mit ihr der sehnsuchtsvolle Schmerz, der den Teil von ihm betraf, auf den er so lange hatte verzichten müssen. Entschlossen verabschiedete sich Alfred von seinen Gedanken und wandte sich wieder der Wirklichkeit zu. Er lenkte seine Schritte in die Richtung, aus der er Stimmen zu hören meinte. Nur kurze Zeit später befand er sich auf einer breiten Straße, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch überaus belebt war. Zu belebt. Und zu hell. Der hochgewachsene Mann, der da aus einer Seitenstraße kam, nahm die Tatsache, dass es bereits früher Morgen war, mit einem grimmigen Lächeln zur Kenntnis. Er musste wirklich vorsichtiger sein, wenn er sich so völlig von der Realität lossagte, um seinen Gedanken nachzugehen. Sollte er irgendwann einmal stundenlang reglos inmitten des Gehwegs stehen bleiben, würden die Menschen vermutlich doch misstrauisch werden.
Durch seinen jahrzehntelangen Aufenthalt in dieser Stadt dauerte es nicht lange, bis Alfred nach seinem nächtlichen Irrgang durch die Pariser Straßen die Orientierung wieder fand. Dann ging er gleichmäßigen Schrittes in die Richtung, in der er den Laden wusste, den er sich ansehen wollte. Der Weltenschreiber misstraute allen Dingen, die sich mechanisch oder elektrisch fortbewegten. Er war sich auch nicht sicher, ob er sich deren Hilfe bedienen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Zu wenig hatte er sich mit der menschlichen Technik befasst. Ihn interessierten Gefühle. Gedanken. Gespräche.
So dauerte es eine ganze Weile, bis Alfred endlich sein Ziel erreichte. Inzwischen war es bereits später Vormittag und die Straßen voller Menschen. Dennoch erkannte Alfred sie sofort wieder. Dort stand sie, direkt vor der Buchhandlung, genau wie vor zwei Tagen, als er sie aus Versehen angerempelt hatte. Er stutzte. War es denn ein Versehen gewesen? Hatten die Schritte des Musikers ihn gestern zufällig in die Bar geführt? Alfreds Augen wanderten kurz in die Ferne, so, als suchten sie dort nach einer anderen Welt, seiner Welt. Hatte er womöglich Hilfe? Hatten sie alle womöglich Hilfe?
Dann blickte er wieder nach vorne und hatte gerade noch Zeit, festzustellen, dass er nicht der Einzige war, der sich die Buchhandlung ansehen wollte. Die Frau mit den langen braunen Haaren, die sie unachtsam zurückgebunden hatte, war bereits auf dem Weg zur Tür. Wie es schien, folgte sie einem älteren Herrn, der seltsam zeitlos aussah. Alfred stutzte. Was ging hier vor? Wer war dieser Mann? Er sah aus wie ein Mensch, aber sein Gesicht … erinnerte an eine andere Welt. Alfreds Welt.
Der Weltenschreiber beobachtete verwirrt, wie der ältere Mann die Tür zur Buchhandlung öffnete und im Inneren des Ladens verschwand. Die Frau, die er von seinem Zusammenstoß her kannte und ein zweiter Mann, der ungefähr im gleichen Alter war, folgten ihm durch die offene Ladentür.
Erst als die drei Menschen die Buchhandlung betreten hatten, kam wieder Leben in Alfred. Während sich die Tür mit einem scheinbar zufriedenen Schwung, begleitet von einem hämischen Knarzen, schloss, begann der Weltenschreiber zu rennen.
Sie standen seit gut zwei Minuten vor der Buchhandlung, während der Verkehr hinter ihnen träge entlang zog. Durch die beiden Schaufenster war nicht viel zu erkennen. Die Auslagen hatten sich seit Sarahs letztem Halt hier nicht verändert; nur eine kleine Kreidetafel pries jetzt ein »Frühsommersonderangebot« an – vier Bücher für den Preis von drei. Matthew war sich angesichts des einzigen Titels, der das Schaufenster dominierte, nicht mal sicher, ob er hier überhaupt eines kaufen würde.
Die lautstarke, aber offensichtlich gut gelaunte Diskussion zweier älterer Damen, die ein Stück den Gehweg hinab standen, wurde nur gelegentlich von einem kräftigen Hupen übertönt. Hin und wieder war ein Vogelzwitschern weit über ihnen zu hören, aber ansonsten erfüllte nur der Klang einer Stadt zur Mittagszeit die Luft.
»Also, was ist nun? Gehen wir rein?« Sarah klang gleichermaßen ungeduldig wie unsicher. Matthew konnte deutlich seine eigenen Gedanken in ihrer Stimme wiedererkennen. Wie sollten sie das angehen? Der Fremde, von dem Sarah gesprochen hatte, war nirgends zu sehen. Dupoits Antwort war simpel – er öffnete die Tür und trat ein. Sarah und Matthew folgten ihm, ohne weiter zu zögern.
Ein Glöckchen über der Tür kündigte mit einem kurzen, hektischen Klingeln ihre Ankunft an. Der Raum schien rechteckig zu sein, aber genau war das nicht auszumachen. Nicht nur die Wände waren von dunklen, raumhohen Holzregalen gesäumt, auf der linken Seite des Ladens standen zwei davon quer und versperrten die Sicht. Zu ihrer Rechten waren vier lange Tische mit spiralförmig angeordneten Bücherstapeln bedeckt. Matthew trat einen Schritt vor und versuchte, an den Regalen vorbei tiefer in den Raum zu blicken. An der Rückwand verdeckte ein persisch anmutender Vorhang scheinbar einen Durchgang. Davor stand ein Tisch mit einer alten Registrierkasse und einem wesentlich moderneren Telefon. Weder der ausladende Leuchter an der Decke noch die grünen Wandlampen zwischen den Regalen waren eingeschaltet und das schräg einfallende Sonnenlicht wurde durch die Scheiben getrübt, als ob es sich nicht weiter in den Laden traute. Außer ihnen schien niemand hier zu sein.
Während Dupoit sich den Regalen links von ihnen zuwandte, ging Sarah an den Tischen vorbei in den hinteren Teil des Raumes. »Hallo?«, rief sie zaghaft. Sie drehte sich um und warf Matthew einen fragenden Blick zu. Dann rief sie wieder, diesmal bestimmter: »Ist jemand hier?«
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