Das war an und für sich schon eine Seltenheit. Die junge Frau warf ihren Zuhörern einen Blick zu und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich die volle Aufmerksamkeit der beiden besaß. Sie atmete einmal tief durch und kam dann zum eigentlichen Teil ihrer Geschichte.
»Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn mich nicht ein Passant plötzlich angerempelt hätte. Wahrscheinlich wäre ich in den Laden gegangen…« Ihre Stimme verlor sich für einen Moment und kehrte dann zurück. »Aber als er mich anrempelte, war es, als hätte er mich aus einem Bann befreit. Die Anziehungskraft des Ladens verschwand ganz plötzlich. Der Stoß war so heftig, dass ich ins Taumeln geriet und alle Mühe hatte, auf den Füßen zu bleiben.«
Dupoit und Matthew sahen sie immer noch an. Verständnislos. Sarah grinste innerlich. Dann würde sie mal zum eigentlichen Kern der Erzählung kommen. »Den Mann, der mich angerempelt hat, konnte ich nur ganz kurz sehen. Aber sein Gesicht … war einmalig. Es war wie deines«, fügte sie mit einem Blick auf ihren Großvater hinzu. »Maskenhaft und irgendwie zeitlos. Wie der Ausdruck in seinen Augen.«
Sarah stellte befriedigt fest, dass ihre beiden Zuhörer sie immer noch ansahen. Die Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern wich und machte Erkenntnis Platz. Erkenntnis und Aufregung.
Und wieder war es Matthew, der die anderen beiden mit dem, was er sagte, überraschte. »Na, dann ist es ja klar, wo wir jetzt hingehen«, stellte er mit ruhiger Entschlossenheit fest. »Wir werden dieser Buchhandlung einen Besuch abstatten.«
*
Die späte Vormittagssonne schien von einem wolkenlosen Himmel zwischen den Häusern hindurch und es wehte nur ein sanfter Wind. Im Gegensatz zum vorherigen Nachmittag waren die Straßen um sie herum wieder voll lärmender Geschäftigkeit. Aber das alles wirkte nach der vergangenen Nacht seltsam unwirklich auf Matthew. Sarah und ihr Großvater unterhielten sich, aber er nahm ihr Gespräch nur am Rande wahr. Während die kleine Gruppe sich ihren Weg auf den gut gefüllten Gehsteigen bahnte, kreisten seine Gedanken um Dupoits Erzählung von dem Antiquariat. Gab es noch mehr Orte wie diesen in der Stadt? War die Buchhandlung auch so ein Ort?
Matthew wurde jäh durch ein schneidendes Klingeln aus seiner Jacke aus seinen Gedanken gerissen. Er blieb überrascht stehen und begann, in den Taschen nach seinem Mobiltelefon zu wühlen. Sarah und Dupoit merkten erst nach einigen Metern, dass sie nur noch zu zweit waren, und drehten sich um. Als Matthew endlich das Telefon in der Hand hatte, bedeutete er ihnen, einen Moment zu warten. Er warf einen Blick auf das Display. Großartig. Die Büronummer.
»Sieh einer an, wer da noch unter den Lebenden weilt«, meldete sich die unangenehm hohe Stimme von James Carmush am anderen Ende. Matthew kannte die cholerischen Anfälle seines Vorgesetzten nur zu gut, aber noch schien der Australier in seiner üblichen Laune zu sein – herablassend, aber beherrscht.
»Ja, hallo Jim«, begann Matthew. Er biss sich auf die Lippe. Hatte er nicht eigentlich gestern schon kündigen wollen? »Es tut mir leid, aber...«
»Was tut dir leid? Dass du zwei Tage lang nicht im Büro erscheinst? Oder dass mir Zürich im Nacken sitzt, weil die ihre Zahlen noch nicht haben? Außerdem erwartet die Chefetage morgen eine Präsentation von mir, die du...«
Matthew kramte mit der freien Hand nach einer Zigarette. Wenn sich Seine Heiligkeit erst mal warm geredet hatte, konnte das dauern. Sarah warf ihm einen fragenden Blick zu und als er die Augen verdrehte, legte sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.
Tatsächlich dauerte die Tirade noch gute zwei Minuten.
»...und deshalb würde ich vorschlagen, dass du pronto deinen Hintern hierher bewegst. Ich will auch gar nicht wissen, welche lahme Ausrede du diesmal...«
»Weißt du, Jim«, unterbrach ihn Matthew, »eigentlich wollte ich dir das ja in Ruhe mitteilen, aber nachdem ich dich schon mal am Telefon habe, können wir das auch jetzt machen.« Er holte tief Luft. Vieles hatte sich in den Jahren, die er in dieser Firma verbracht hatte, aufgestaut, aber er sollte sich kurz fassen. »Die Zahlen kannst du selbst abliefern, du musst dazu nur den Computer anschalten. Das geht an diesem großen runden Knopf in der Mitte. Wenn du ihn schon laufen hast, kannst du natürlich auch gleich deine Präsentation erstellen, ich werde nämlich eine sehr lange Zeit nicht da sein. Aber ich bin mir sicher, du schaffst das schon, irgendeine Qualifikation musst du für deine Stelle ja mitgebracht haben.« Jetzt konnte auch er ein Grinsen nicht mehr unterdrücken.
Carmushs Stimme klang jetzt weit weniger selbstsicher. »Wie bitte? Sag mal, hast du...«
»Tut mir leid, Jim, aber ich muss auflegen. Sollte es aber nicht zu dir durchgedrungen sein: Ich kündige. Ihr braucht mir meine Sachen nicht zu schicken.«
»Du kündigst? Warum?« Die Stimme war jetzt lauter, angefüllt mit der aufkommenden Panik eines Menschen, in dem die Erkenntnis wächst, dass auf ihn jetzt sehr viel mehr Arbeit zukommt.
»Ich bin euch entwachsen.«
»Wann?«
»In diesem Augenblick.« Matthew legte auf und atmete erleichtert aus. Er hatte nicht erwartet, dass es sich so gut anfühlen würde. Sofort klingelte sein Telefon wieder. Er schaltete es aus, überlegte einen Augenblick, öffnete dann die hintere Abdeckung, entfernte die SIM-Karte und zerbrach sie. Dann nahm er das Telefon und warf es in den nächstgelegenen Mülleimer. Dupoit sah ernsthaft erstaunt aus, aber Sarah lachte lauthals.
»Also so kündigt man in England, was?«
Alfred irrte die ganze Nacht durch die Pariser Straßen. Manche waren überraschend belebt und ihre festliche Straßen- und Geschäftsbeleuchtung vermittelte den flanierenden Menschen einen trügerischen Eindruck einer bereits lange vergangenen Tageszeit. Andere wiederum waren düster und nur spärlich beleuchtet von einzelnen Lichtquellen, die ihre schwachen Strahlen beinahe entschuldigend in die Dunkelheit hinausschickten. Alfred war das egal. Seine Schritte waren gleichmäßig, ohne dass er darüber nachdenken musste. Seine Überlegungen hingen mit ganz anderen Dingen zusammen. Wichtigeren Dingen.
Zuerst dachte er darüber nach, was er in der kleinen heruntergekommenen Bar aufgeschnappt hatte, in der er den gestrigen Tag verbracht hatte. Schreibend, wie immer. Der verwirrte Mann, der da so überraschend in den Gastraum gestürmt war, hatte ihn völlig unangekündigt aus der Eintönigkeit seines Daseins gerissen und ihm eine Möglichkeit aufgezeigt, die ihn trotz seiner äußeren Gelassenheit innerlich aufgewühlt und bis in seine Grundfesten erschüttert hatte.
So lange! So lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! Hatte eine Nachricht wie diejenige, die er glaubte, aus dem Gestammel des Mannes herausgehört zu haben, herbeigesehnt! Konnte es wirklich wahr sein? War das die Spur, auf die er so lange gehofft hatte? Wann genau hatte er eigentlich aufgehört zu hoffen? Er wusste es nicht mehr. Aber es lag schon geraume Zeit zurück.
Irgendetwas in Alfred sträubte sich dagegen, das Gehörte für wahr zu halten und sich erneut der Hoffnung hinzugeben. Er dachte an den Mann mit dem verstrubbelten Haar, der in die Bar gestolpert war und angefangen hatte, in hysterischem Tonfall auf den alten Barbesitzer hinter der Theke einzureden. Der hatte ihn nur wortlos angegafft, die Zigarette hing ihm dabei in einem Mundwinkel fest. Er hatte nicht einmal die Zeitung sinken lassen, in der er bis dahin gelesen hatte. Stattdessen war sein Gesicht immer ausdrucksloser geworden, als er dem so aufgeregten Neuankömmling schweigend zugehört hatte. Es war ihm ohne weiteres anzusehen gewesen, dass er den Fremden insgeheim für verrückt hielt. Und es war ja auch eine verrückte Geschichte, die der Mann auf seine verwirrte Art und Weise erzählt hatte. Es musste eine verrückte Geschichte sein für die Menschen dieser Welt! Aber eben nicht für Alfred.
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