„Die Beiden sind Mitbrüder der ONO!“, eröffnete Undolf. „Es ist besser, du kennst sie nicht, solange wir nicht überzeugt sind, dass du kein Unsichtbarer bist. Wir vermuten …“, begann er ohne Übergang und offenbar unter ihnen verabredet, … dass die Kleiderordnung der sterbenden Welten eine andere ist, als die unsrige. Du solltest sie kennen. Kannst du etwas darüber sagen?“
„Klar!“, erwiderte Kishou. Es gibt keine! – Also keine, an die man sich halten muss, wie’s wohl hier so ist!“ Sie erhob sich und öffnete ihren Braanenmantel. „Meine Sachen sehen zum Beispiel so aus! Bis auf die Kutten der Kyiten in der Ersten Ebene des Ersten Tals des Ersten Droms, die so ähnlich aussehen wie eure Mäntel, trägt jeder, was er will!“
Die beiden Breenen schienen sehr überrascht beim Anblick Kishous ohne ihren Mantel, und flüsterten angeregt miteinander. Undolf erhob sich gar und befühlte ihre Bluse mit seinen Händen. Er setzte sich wieder und besprach etwas flüsternd mit seinen Kumpanen.
„Meine beiden Brüder hier sind Experten, was die alten Krypte der Sterbenden Welten angeht!“, meinte er dann. „Sie sagen, viele von ihnen sind in einer unbekannten Sprache verfasst, die bislang noch unzureichend verstanden wird. Weißt du etwas von ihr?“
„Tak!“, antwortete Kishou sofort. „Eli quad ai chrona fata sun quapo, cum Suäl Graal fiin ai horp galamara! – Es ist die Sprache der alten Zeit, die gesprochen wurde, bevor Suäl Graal die Großen Tore der Großen Wasser verschloss!“, übersetzte sie sogleich.
Diese Antwort Kishous löste in den Breenen sichtbar eine heftige Erregung aus. Unruhig steckten sie ihre Kapuzen zusammen und tuschelten so heftig miteinander, dass Kishou sogar einige Worte mitbekam.
„Nach all den Erfahrungen mit dir, habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschieden, dir zu vertrauen!“, meinte Undolf endlich, „Aber meine Brüder haben recht, wenn sie meinen, ich sollte mich erst allein von der Anwesenheit der Chemuren überzeugen, um ganz sicher zu gehen, das es Wahr ist, was du sagst. Denn wenn es wahr ist, was du sagst, zerstört es alle Ordnung der Breenen. Bis zu einer neuen Ordnung wird das Chaos herrschen. Wenn du aber von den Gaunen geschickt wurdest, und wir dir vertrauen, so hat es das Potential, die ONO zu zerstören! Wie auch immer, deine Ankunft ist mehr als nur eine Gefahr für alle – sie ist eine mögliche Zäsur in der Geschichte des Belfelland. Wir dürfen kein Risiko eingehen!“, schloss er.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Kishou gerade heraus.
„Die Nachrichten besagen, dass ein großes Aufgebot der Gleim um 6 Uhr aufgebrochen ist. Wenn die Chemuren …“
„Was ist ‚6 Uhr’, unterbrach Kishou ihn aufgeregt.
„6 Uhr ist 6 Uhr!“, antwortete Undolf nicht verstehend.
„Ich kenne diese Bezeichnung nicht. Wann ist ‚6 Uhr’? Meint es eine Zeit des Tages?“, drängte Kishou.
„Ja! - also c kurz nach Tagesanbruch etwa.
„Und welche Zeit ist seitdem vergangen?", fragte sie nervös.
Na jetzt ist es ungefähr 2 Uhr Mittags - also ... also die Sonne hat ihren höchsten Stand schon überschritten, falls du das verstehst!" ...
„Das bedeutet, sie müssten längst auf Boorh und die anderen gestoßen sein!“, erschrak Kishou. Sie kramte nervös in der Tasche ihres Mantels, zog endlich den kleinen, blauen Kristall hervor und legte ihn auf den Tisch neben eine der Lampen. „Seht ihr den Lichtpunkt an seiner Seite? Das ist die Richtung, wo in diesem Moment Habadam, und also auch alle anderen sind. Könnt ihr sagen, in welcher Richtung der Ort liegt, wo die Gleim hinmarschieren?“
Alle betrachteten gebannt das Kleinod neben der Lampe. „Was ist das für ein Gerät?, fragte Undolf.
„Ist doch jetzt egal!“, wehrte Kishou ab. „… Ein Besonderer Apparat, der mir immer genau die Richtung anzeigt, in der ich auf Habadam treffe. Ist es dieselbe Richtung, in der die Breenen uns gesehen haben?“, fragte sie noch einmal.
Undolf dachte nach und versuchte offenbar die Lage des Raumes mit dem Draußen zu verbinden. Dann wies er in eine Richtung. „Ich würde sagen, das Kornbaat liegt in etwa in dieser Richtung!“ Er streckte seinen Arm in den Raum hinein, während er auf die Scheibe blickte.
„Sicher?“, hoffte Kishou, denn der ausgestreckte Arm wich eindeutig von der Richtung nach rechts ab, die das Licht in dem Kristall anzeigte.
„Das dürfte stimmen!“, meinte einer der beiden Breenen, und man sah an seiner Reaktion, dass er erschrak, laut gesprochen zu haben, denn er drehte sich sofort vom Tisch weg.
„Das könnte im besten Fall bedeuten …“, sinnierte Kishou. „… das sie die Horden der Gleichen rechtzeitig bemerkt haben, und geflohen sind. … an die anderen Möglichkeiten will ich lieber nicht denken. Ich muss auf jeden Fall sofort irgendwie aufbrechen!“, entschied sie.
„Wir haben einen kleinen Wagen organisiert!“, meinte Undolf und zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche. „Hier ist dein Existenznachweis. Es ist eine gute Arbeit. Präge dir alles genau ein, was darauf steht, damit du bei einer Kontrolle nichts falsches sagst. Dein Name ist nun Mujie – Mujie Saii!“
„Mujie Saii …?“ Etwas erschrak in Kishou, aber sie wusste nicht warum … „Ich … ich kenne den Namen …, aber woher?“, suchte sie in ihren Gedanken.
„Wahrscheinlich hast du ihn schon einmal gehört. Es ist ein recht gewöhnlicher Name bei den Braanen!“, meinte Undolf. „Wir haben ihn extra so gewählt – möglichst unauffällig und schwer zu prüfen!“
„Gut!“, schüttelte sie die Gedanken ab. „Ich guck’s mir unterwegs an. lasst uns los!“, drängte sie.
„Wir werden allein aufbrechen!“, wurde sie von Undolf erinnert.
„Schon klar!", reagierte Kishou, und wickelte ihren Bogen in das Tuch. Gemeinsam verließen sie den geheime Unterschlupf.
Als sie auf die Gasse hinaustraten, trennten sich die beiden anderen Breenen wortlos von ihnen und gingen in die entgegengesetzte Richtung davon. Ein bunter Vogel flog mit hoher Geschwindigkeit dicht über ihrem Kopf hinweg und stieg krächzend in der Gasse nach oben. Es war nicht schwer zu erraten, was für ein Vogel das war, und Kishou lächelte. Es mochte eine Reaktion Luis auf sein langes Warten auf sie gewesen sein. Immerhin wusste er ja nicht, was in dem Haus mit ihr geschah.
Wortlos bogen sie in eine kreuzende kleine Gasse ein, die kurz darauf in der breiten Straße endete, von der Kishou geflohen war. Sie schaute zu dem großen Haus mit dem Glockenturm hinüber. Die beiden rotberockten Wachen, oder was sie auch immer waren, standen wieder vollzählig vor dem Portal …
„Da hinten steht er!“, meinte Undolf und nickte mit seinem Kopf kurz in die Richtung ihres Marsches in der Menge.
Bald darauf kletterten sie auf den Kutschbock, und Undolf reihte das Gefährt in den Strom der Fuhrwerke in der Straße ein. Sie mussten zunächst einen großen Bogen um den Häuserblock machen, um auf einer parallel verlaufenden Straße den eigentlichen Kurs in die entgegen gesetzte Richtung aufnehmen zu können. Ihre Augen irrten unablässig in den Häuserschluchten umher, und konnten doch nur einen Bruchteil dessen aufnehmen, was sich ihnen bot. Die Häuser wurden nach und nach kleiner, bis sie sich mehr und mehr zwischen landwirtschaftlichen Parzellen verloren, und sie schließlich die regelmäßig befestigte Straße verließen. Sie kletterte vom Kutschbock, um auf der Pritsche in Ruhe ihren Existenznachweis zu studieren. Einige gefüllte Kartoffelsäcke und kleine Holzplanken lagen darauf – und hinten in der rechten Ecke ein Kasten mit Papieren darin. „Was ist mit dem Formular, das man ausfüllen muss, wo man hingefahren ist?“, fragte sie sofort.
„Kümmere dich nicht darum. Das erledige ich!“, war die beruhigende Antwort.
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