»Nein«, antwortete ich. »Ich hab mir immer die größte Mühe gegeben. Ich nehm´ ihr viel Arbeit ab, kümmere mich um den Kleinen. Ich lieb sie doch! Ich versteh die Welt nicht mehr. Das muss mit ihrer Arbeit zu tun haben. Sie lässt sich einfach nicht helfen. Ich hab ihr sogar vorgeschlagen, dass sie kündigen soll. Wir würden finanziell schon irgendwie klarkommen. Aber sie will einfach nicht!«
»Also irgendwie hört sich das alles an, als ob Ina eine Psychose hat«, überlegte Doris. »Ihre nervlichen Zusammenbrüche deuten irgendwie darauf hin.«
»Ja, ich hab ihr auch bereits gesagt, dass sie Hilfe bräuchte. Aber sie ist total ausgerastet. Sie meinte, ICH wäre der Kranke von uns beiden. Völlig kolerisch sei ich. Aber vielleicht liegt es ja wirklich an mir.«
»Naja, ganz einfach bist Du sicherlich nicht. Aber das kann doch nicht der Grund für ihr Verhalten sein«, sagte Doris beruhigend.
Wir redeten noch eine ganze Zeit. Ich war völlig am Boden zerstört - konnte die Situation nicht fassen.
»Ich bin für Dich und Bastian da«, sagte sie, als sie sich verabschiedete. »Halt mich auf dem Laufenden - und pass auf Euch beide auf.«
Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Immer wieder überlegte ich, was ich wohl falsch gemacht hatte. Aber ich war mir keiner Schuld bewusst.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Am Montag müsste ich zur Arbeit, aber wo könnte ich Bastian während der Arbeitszeit unterbringen? Und wie sollte ich ihm erklären was mit seiner Mama los ist - warum sie nicht zuhause war! Ich wusste doch, wie sehr er an seiner Mutter hing. Wie sollte dieser kleine Kerl das alles begreifen? Ich zermarterte mir das Gehirn und fühlte mich unsagbar schlecht.
Eines wurde mir jedoch klar - ich musste irgendeine Lösung finden. Und ich würde um Ina und meine Familie kämpfen!
Ich wurde früh wach am Sonntagmorgen. Bastian war schon gegen 6 Uhr in mein Bett gekrabbelt. Er liebte das Kuscheln mit Mama und Papa, … nur Mama war ja nicht da. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich mich nun vorerst alleine um meinen kleinen Schatz kümmern musste - … und ich war hundemüde!
»Wann kommt Mama denn wieder?«, fragte er mich. Eine unangenehme Frage. Fragen, auf die man keine Antwort weiß, sind immer unangenehm.
»Bald«, antwortete ich und stand auf. »Ich mach uns jetzt Frühstück.«
Wenig später saßen wir in der Küche. Ich überlegte, wie ich den ganz normalen Alltagstrott in den Griff bekommen könnte. Da fielen mir unsere Nachbarn ein, die zwei Häuser entfernt wohnten und vier Kinder hatten - drei Jungs und ein Mädchen. Bastian spielte oft mit ihnen, und besonders befreundet war er mit Lasse, der zwei Jahre älter war. »Basti, ich geh gleich mal kurz zu Lasses Mama. Dauert nicht lange. Wartest Du auf mich?«
Ich klingelte, und Lasses Mutter öffnete die Tür.
»Christine, ich brauch Deine Hilfe«, sagte ich und trat ein. Dann schilderte ich meine Situation. Es war nicht unbedingt angenehm meine Probleme vor ihr auszubreiten, aber was sollte ich machen.
»Kein Ding Bodo, Du kannst ihn vor der Arbeit zu uns bringen. Ich fahr ihn dann um 8 Uhr in den Kindergarten und hol ihn auch wieder ab. Wenn Du nach der Arbeit wieder zuhause bist, nimmst Du ihn wieder zu Dir.«
Mir fiel eine Last von den Schultern.
»Ich weiß garnicht, wie ich Dir danken soll«, sagte ich, als ich mich wieder auf den Weg nachhause machte.
Als ich Bastian erzählte, dass ich ihn jeden Morgens zu den Boisens bringen würde und er den ganzen Tag mit Lasse spielen könnte, war er begeistert. Trotzdem war mir nicht wohl dabei. Denn ich müsste ihn nun immer um 5 Uhr morgens wecken. Das war für uns beide sehr früh. Aber es nützte nichts.
»Wenn Du möchtest, darfst Du jetzt zu Lasse zum Spielen gehen. Und heute Nachmittag unternehmen wir was zusammen«.
Ich wusch ihn, zog ihn an. Und obwohl mir nicht danach war, alberten wir wie immer dabei herum.
»Ich hab Dich lieb.« Ich drückte meinen kleinen Sohn.
»Ich hab Dich auch lieb, Papa.«
Dann öffnete ich die Haustür und winkte ihm nach, als er sich zu seinem Kumpel aufmachte.
Hinter unserem Grundstück befand sich das Haus von Frau Dr. Mehring-Leupold. Seit etwa einem Jahr wohnte sie dort, war alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen - und Psychiaterin. Wir kannten uns mittlerweile gut, weil Ina manchmal auf ihre Mädchen aufpasste. Beide waren im Grundschulalter, und wenn sie aus der Schule kamen, war ihre Mutter noch in der Praxis.
Ich nahm mir vor, Frau Mehring-Leupold anzusprechen. Vielleicht könnte sie mir einen Rat geben. Schließlich kannte sie Ina, und von Berufswegen waren ihr solche Situationen nicht fremd. Also klingelte ich an ihrer Haustür.
»Kommen Sie rein«. Freundlich begrüßte sie mich.
»Es ist mir äußerst unangenehm, aber ich brauche Ihren Rat«, sagte ich und erzählte, was passiert war. Ich sprach von Inas Schlaflosigkeit und wie sich langsam alles entwickelt hatte. Von meinen Sorgen, dass Bastian darunter leiden würde.
»Solche Fälle sind mir zuhauf bekannt. Bringen Sie ihre Frau dazu, mich in meiner Praxis aufzusuchen«, schlug sie vor.
»Das wird ein Problem, denn sie ist davon überzeugt, dass ICH derjenige sei, der zum Psychiater müsste«, entgegnete ich.
»Aber im Moment ist es die einzige Möglichkeit. Versuchen Sie es. Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn es weitere Probleme gibt.«
Den Nachmittag war ich mit Bastian auf dem Spielplatz gewesen. Ich unterdrückte meinen Schwermut - er sollte einfach Spaß haben.
Am Abend - ich hatte Bastian bereits ins Bett gebracht - rief mich Doris an. »Ich hab mit Ina telefoniert«, sagte sie. »Die ist ja völlig von der Rolle. So kenn ich sie garnicht. Manchmal redete sie richtig wirr. Ich habe den Eindruck, dass sie vorhat, Bastian morgen aus dem Kindergarten abzuholen. Du musst unbedingt aufpassen!«
Das durfte nicht sein. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Ina in ihrem Zustand Bastian zu sich nahm! Allerdings hatte ich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Bastian war doch auch Inas Kind. Sie war doch schließlich seine Mutter. Aber würde sie mir Bastian wegnehmen wollen? Ich beschloss jetzt, in die Offensive zu gehen. Ich würde mir Urlaub nehmen, Bastian nicht in den Kindergarten schicken, und dann Ina am Montag aufsuchen.
Was blieb mir auch anderes übrig? Telefonieren wollte sie ja nicht mit mir. Das hatte mir Gerd am Telefon gesagt, als ich versuchte, sie anzurufen.
»Tut mir leid«, hatte Gerd gesagt, »sie will nicht mit Dir reden.«
Es war bereits sehr spät. Aber ich ging nochmals zu Christine, der Nachbarin, die Bastian in den Kindergarten bringen sollte.
»Ich nehm´ mir frei. Ich behalte Bastian am Montag zuhause.« Ich erklärte ihr die Gründe für meine Entscheidung. »Aber ich komm auf Dich zurück.«
Montagmorgen rief ich in der Firma an, erklärte Herrn Jargstorff meine Not und nahm mir kurzfristig frei. Anschließend telefonierte ich mit dem Kindergarten und teilte mit, dass Bastian für eine unbestimmte Zeit zuhause bleiben würde. Gründe brauchte ich in diesem Fall ja nicht zu nennen.
Am späten Vormittag meldete sich Ina telefonisch. Sie beschimpfte mich sofort und fragte, warum ich Bastian nicht in den Kindergarten gebracht hätte.
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