Wilhelm Witte lächelt: „Und wenn ich Euch sage, ich habe solche Bauten mit eigenen Augen gesehen? Wir haben bislang Gottes Burgen errichtet. Nun aber können wir das himmlische Jerusalem auf die Erde holen! Und - wir könnten zwei Türme haben wie der Dom unseres Bischofs, aber sie wären weit höher als seine dort. Wir würden ein Mittelschiff errichten, wie es noch niemand in all den Städten entlang der Küste geschaut hat.“
„ Und woher wollen wir die Unmengen an Kalkstein oder Sandstein herbeiholen für ein solches Werk?“ - „Wir werden sie nicht brauchen! Auch unser Backstein wird es tun, da bin ich sicher.“ Er streckt seinem Gast die Hände entgegen: „Ich bitte Euch, Heinrich, unterstützt mich im Rat, dass er einen solchen Bau beschließt. Es wird den Ruhm unserer Stadt bei allen wendischen Städten erhöhen, und...,“ er verzieht den Mund zu einem breiten Lächeln, „wir werden Bischof Johannes zeigen, dass wir Bürger dieser Stadt mächtiger sind als alle seine adligen Domherren zusammen.“
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
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So ist es: Die Pfeffersäcke hatten nun einmal mehr Geld zur Hand als die Pfaffen im Domkapitel. So hatten die Herren des Rats gewagt, auch ihrer Kirche nun zwei Türme vorzusetzen – eine Provokation. Und die zweite: Man hatte die gerade zur Hallenkirche umgebaute Basilika am Markt schon wieder teilweise abgetragen, um sie im inzwischen modernen Stil, den wir heute Gotik nennen, neu zu planen – mit sage und schreibe 38 Metern ragte nun das Gewölbe im neuen Chor der Bürgerkathedrale empor.
Konnten die geistlichen Herren schon mit dieser schwindelerregenden Höhe nicht mithalten, so versuchte es Bischof Johann von Tralau mit der Länge: ein riesiger Chor, ebenfalls gotisch-filigran, sollte den Dom noch einmal um 40 Meter verlängern. Aber wieder ging es nur schleppend voran, 1341 kann Bischof Bocholt endlich den neuen Chor weihen, um wenige Tage später dort auch seine letzte Ruhe zu finden.
Wir sind der Zeit weit vorausgeeilt, kehren wir also zu den Anfängen der anderen Kirchen zurück: Dass St. Petri und St. Marien, die beiden Kirchen am Markt, als romanische Basiliken ins steinerne Dasein starteten, sahen wir bereits. Aber selbst Kirchbau ist Modesache: Aus den Basiliken wurden frühgotische Hallenkirchen, das entsprach auch dem Selbstbewusstsein ihrer bürgerlichen Auftraggeber: Nicht mehr die Ausrichtung auf den Chor, den Bereich des Klerus, sondern die Halle als Versammlungsort der (Laien-)Gemeinde bestimmte die Bauidee. Und die Petrikirche wurde dann gleich um zwei weitere Seitenschiffe erweitert, war fast so breit wie lang.
Die Herren des Rats aber erfuhren von den neuen, himmelstürmenden Kathedralbauten in Frankreich, und sie beschlossen es den Vorbildern gleichzutun – ein kühnes Unterfangen angesichts des Backsteins als Baumaterial. Sie setzten damit zugleich ein Zeichen für all die vielen Neubauten in den neuen Städten entlang der Ostseeküste – von Wismar angefangen über Danzig und Riga bis ins ferne Tallinn, das damals Reval hieß. Aber auch innerhalb Lübecks wuchs die Zahl der Backsteinkirchen: St. Jakobi im Schifferviertel am Koberg, St. Ägidien im Handwerkerviertel am Osthang des Stadthügels. Hinzu kommen die Klosterkirchen, von denen heute nur noch St. Katharinen erhalten ist, die Predigtstätte der Franziskanermönche. Kirchen hatten natürlich auch die Dominikaner im sogenannten Burgkloster, die Zisterzienserinnen bei St. Johannes, Lübecks ältestem Kloster, und schließlich, nur wenige Jahre vor der Reformation erst fertig gestellt, das St. Annen-Kloster als Heimstätte für Lübecks ehelos gebliebene Jungfrauen aus den reichen Familien, nachdem den Bürgertöchtern die beiden Nonnenklöster in Rehna und Zarrentin verschlossen blieben.
Kirchen jedoch waren mehr als nur Orte, an denen ein Kleriker die (lateinische) Sonntagsmesse las. In ihnen wuchs die Zahl der Altäre und der seitlichen Kapellen, weil es galt, bewusste und unbewusste Sünden zu sühnen, ehe der Tod den Menschen dahinraffte – und auch danach noch gab es eine Chance, dem Fegefeuer rascher zu entfliehen: die Seelenmessen zu Gunsten der verstorbenen Vorfahren. An Sünden mangelte es dem normalen Christenmenschen ja nicht, und ob nicht sogar das Gewinnstreben des Kaufmanns ohne alle produktive Tätigkeit schlechthin sündhaft war, das blieb letztlich ungeklärt.
So war es schon angebracht, sich die Fürbitte der Heiligen durch mancherlei Geschenke zu sichern – von der schlichten Wachskerze bis hin zum geschnitzten Retabel auf einem steinernen Altartisch. Und eine Präbende – Pröven sagte man in Norddeutschland dazu - mit der man einen eigenen Priester bezahlen konnte, der für den Stifter die tägliche Messe las und seine Fürbitte gen Himmel schickte, war ebenso von Vorteil wie eine fromme Stiftung zugunsten der Witwen und Waisen, denn Barmherzigkeit war eine wichtige Tugend, wo man schon nicht immer tugendsam leben konnte. Es waren die reichen Bürger, die ein dem Heiligen Geist geweihtes Hospital stifteten, zunächst in der Marlesgrube, aber dort erhob der Bischof Ansprüche. Und so baute man wenig später am Koberg eine riesige Halle und davor eine zweischiffige Kirche, und beides wurde von einem bürgerlichen Gremium verwaltet.
Kirchen waren jedoch ebenso der Ort, in dem oder doch um den herum die Menschen ihre letzte Ruhe fanden, und je näher dem allerheiligsten Sakrament, desto näher auch dem erhofften Paradies. Wer zu den angesehenen, den ratsfähigen Familien gehörte, hatte sein Erbbegräbnis möglichst gleich in St. Marien – dort, wo der Rat sich versammelte, ehe er in das neu errichtete Rathaus gleich nebenan zog.
6. Dänenherrschaft – Fremdherrschaft?
Eigentlich konnten Ratsherren und Bürgermeister ja zufrieden sein: Seit 1188 war Lübeck eine freie Stadt des Reiches, allein der Kaiser war noch Stadtherr, und der war weit und hatte meist andere Sorgen, als ihnen hineinzuregieren. Aber eben darin lag auch ein Problem: Ein ferner und wenig interessierter Stadtherr würde kaum zu Hilfe eilen, wenn wieder einmal der (nun schon dritte) Adolf von Schauenburg sich Lübecks bemächtigen wollte und damit die Stadt auch in seine zahlreichen Händel verwickeln würde.
Kaiser Friedrich hatte ja mit seinen großzügigen Privilegien für Lübeck auch den Holsteiner Grafen geschädigt: Die mancherlei Rechte am umliegenden Land – Weiderechte auf dem anderen Traveufer, Holzeinschlag im Klützer Winkel, Fischereirechte an der unteren Trave, Hoheitsrechte über die Stecknitz bis nach Mölln – das alles ging schließlich zu Lasten der benachbarten Fürsten, auch wenn sie entschädigt werden mußten. Doch Anlaß für Streit gab es für viele Jahrhunderte (noch 1890 dienten die alten Urkunden als Nachweis vor Gericht!) Aber wir wissen ja: Recht haben und Recht bekommen sind oft genug sehr unterschiedliche Dinge, vor allem, wenn der Holsteiner Graf oder ein anderer mächtiger Nachbar seine Truppen aufmarschieren ließ.
Die politische Lage im nördlichen Raum war um das Jahr 1200 schließlich verworren genug. Dabei ist für jeden, der Handel treibt, vor allem eines wichtig: Frieden und geordnete Verhältnisse, Sicherheit der Verkehrswege zu Lande und vor allem auch auf dem Wasser. Und eine starke Hand, die eben das garantiert. Doch der mächtige Sachsenherzog, der Löwe, war ins Exil nach England geflohen.
Allerdings, da war noch der ehrgeizige Holstengraf, Adolf III, und der nutzte die Gunst der Stunde, um sich überall zu bereichern: die Dithmarscher unterwarf er, die Grafschaften Stade und Ratzeburg nahm er in Besitz. Und natürlich lockte eine weitere Beute: die Stadt an der Trave mit ihren hohen Gewinnen, die man abschöpfen konnte. 1192 mußte sie sich ihm notgedrungen ergeben, und der neue Kaiser, Friedrichs Sohn Heinrich VI, war in Sizilien beschäftigt. So war ihm ein starker Mann hoch oben im Norden durchaus willkommen, und bereitwillig überließ er dem Grafen die Einkünfte aus Lübeck, die eigentlich dem Reich zustanden.
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