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Im Saal über der Tuchhalle am Markt versammelten sich die Ratsherren, allesamt Fernkaufleute. Man war besorgt, sehr besorgt sogar. „In wenigen Tagen wird der Kaiser mit seinen Truppen vor dem Burgtor stehen,“ sagte Herr Gerhard und nahm auf dem Stuhl des Bürgermeisters Platz. „Graf Simon wird die Tore nicht freiwillig öffnen, schließlich vertritt er den Herzog.“
„ Dem wir einen feierlichen Treueid geschworen haben,“ ergänzte Herr Albrecht, der Älteste unter den Ratsherren. „Wir werden wohl oder übel unsere Stadt verteidigen müssen.“ - „Um dann von den Kaiserlichen erstürmt zu werden! Nein, Albrecht, das wird nicht gut ausgehen. Wir sollten die Sächsischen samt dem Grafen in der Burg einschließen und den Kaiser würdig empfangen,“ schlug ein anderer vor. „Die römische Majestät ist schließlich Lehnsherr auch des Herzogs, und sie hat ihn in die Acht getan.“
„ Und wie wollt Ihr einst vor den himmlischen Richter treten - als Eidbrüchige?“ erregte sich Albrecht, der wahrscheinlich als erster diesen Gang anzutreten hatte.
Bürgermeister Gerhard hob beide Hände: „Das mit dem Schwur bei allen Heiligen ist eine Sache, da mag jeder sein Gewissen befragen. Aber wir sollten auch etwas anderes bedenken in dieser Stunde: Wir alle sind Kaufleute, jeden Tag schließen wir Verträge mit Käufern und Kunden, und nicht nur mit Händlern, sondern auch mit Städten und Fürsten, leisten einen Eid, um uns für den Vertrag zu verbürgen. Ich frage Euch, ihr Herren: Wer wird uns noch trauen, uns für ehrbare Kaufherren halten, wenn wir einen so wichtigen Eid leichtfertig brechen? Und wissen wir, ob der Herzog nicht einmal zurückkehren wird? Was wird er dann mit dieser Stadt tun? Denkt nur an Halberstadt! Das hat er grausam niederbrennen lassen, als er mit Bischof Ulrich in Streit geraten war.“
Nun mischte sich Herr Johann ein. Er war weit herumgekommen mit seinen Schiffen, war welterfahren und klug: „Gerhard hat recht,“ sagte er, „aber es gibt einen Weg: Wir sollten Herzog Heinrich bitten, uns von diesem Eid zu entbinden. Bitte, haltet das nicht für einfältig! Er wird einwilligen, eine vom Rotbart zerstörte Stadt nützt ihm wenig. Noch hofft er ja, gegen die kaiserliche Majestät zu gewinnen. Und wir sollten den Kaiser um Waffenruhe bitten - und um Erlaubnis, dass wir Boten nach Stade zum Herzog schicken mit diesem Anliegen. Sind sie zurück, würden wir ihn mit allen Ehren in unserer Stadt begrüßen.“
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
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Zum ersten Mal war also hohe Diplomatie gefragt. Und die übernahm ein anderer Heinrich: Lübecks Bischof, aus dem fernen Oldenburg inzwischen an die Trave übergesiedelt und mit dem Herzog seit langem freundschaftlich verbunden. Er handelte mit dem Kaiser eine Waffenpause aus, damit der Lübecker Rat nach Stade schicken konnte. Der Kaiser mag gerührt gewesen sein über so viel Biederkeit - da war er aus den eigenen Kreisen anderes gewohnt - Heinrich war da das beste Beispiel. Doch der geschasste Herzog gewährte gnädigst das Erbetene.
So empfingen nun die Bürger Lubekes den hohen kaiserlichen Herrn mit aller Ehrerbietung: Feierlich wurde er in die Stadt geleitet, mit Hymnen und Lobgesängen, wie die Chronik vermeldet, und das nicht ohne Grund: Denn was würde mit all den wichtigen Privilegien geschehen, die Heinrich gewährt hatte, wenn es nun keinen Sachsenherzog mehr gab? Wer würde Stadtherr werden, Schutzherr in gefährlichen Zeiten? Und der Kaiser gab sich großzügig: Nicht nur all diese Rechte gewährte er, sondern auch manches mehr. Vor allem Land rings um die Stadt und Besitzrechte auf dem Wasser übertrug er den Bürgern Lübecks – ein unschätzbarer Gewinn im Dauerstreit mit den Holsteiner Grafen.
Und 1188 legten ihm Lübecks Gesandte dann noch einmal eine schöne Urkunde vor, die man eigens für ihn aufgeschrieben hatte, mit alledem, was er zugesagt hatte – und vielleicht noch ein bisschen mehr? Schaden könnte das ja nicht, und das Original wäre schließlich nur in Lübeck einzusehen. Jedenfalls bestätigte Friedrich Barbarossa feierlich, dass Lübeck nicht etwa den Grafen von Holstein, sondern allein dem Kaiser unterstellt sei. Die Verwaltung aber blieb dem Rat vorbehalten, er konnte ordnen, was es zu ordnen gab, zum Besten der Stadt und ihrer Bürger. Lübeck war eine freie Stadt des Reiches geworden – aber nur, wenn das Reich stark genug und willens war, das auch durchzusetzen.
4. Lübeck – Stadt der Kaufleute
In jeder Stadt des Heiligen Römischen Reiches, gleich ob schon aus römischen Zeiten herübergerettet oder neu gegründet, gab es eine ständische Ordnung: Es gab Krämer und Großkaufleute, es gab Handwerker unterschiedlichster Art und Bedeutung, organisiert in Zünften, Gilden oder Ämtern, es gab Mägde, Knechte, Gesellen, Lehrlinge, Tagelöhner und „unehrliche“ Berufe wie den Abdecker oder den Henker, aber auch den Spielmann oder den Barbier. Und es gab eine Hierarchie im System der Mitbestimmung am Schicksal der Stadt: Da waren die herrschenden Familien, „ratsfähig“ nannte man sie in Lübeck, Patriziat in anderen Städten, da war die gar nicht so große Zahl der einfachen Bürger, also im Besitz des Bürgerrechts und damit in meist recht geringem Maße mitbeteiligt an manchen Entscheidungen, und da war die große Menge bloßer Einwohner, weil sie die Bedingungen für einen Bürgereid nicht erfüllten: Grundbesitz, bestimmte Einkünfte, freie und 'ehrliche' Geburt. Und männlich mussten sie auch sein! Demokratisch sieht anders aus. Aber dieser Begriff stammt schließlich aus einer anderen Zeit. Heute würde man das eine Oligarchie nennen.
Lübeck war da keine Ausnahme, im Gegenteil: Seit dem ersten Tag waren es die Fernhändler, die hier schon vor der Gründung lebten und handelten, Männer, die sich um des Handels willen zusammentun mussten und dann wohl auch als eine Art Schwurgemeinschaft dem Stadtgründer gegenüberstanden. Jedenfalls stellten sie die Verhandlungspartner des Stadtherrn, aber auch die ersten Männer, die Verantwortung übernahmen für gemeinnützige Aufgaben. Schließlich ging es bei allem um ihre Existenzgrundlage, den freien Handel. Aber auch adlige oder (obwohl das im Grunde dasselbe war) geistliche Stadtherren anderweitig förderten die Kaufleute in ihren Städten nach Kräften, denn ihre Tätigkeit war auf Gewinn ausgerichtet, während das Handwerk sich mit Selbstversorgung zufriedengab. Und Gewinn lässt sich abschöpfen – durch Zölle, Abgaben, Steuern. Daher der Boom der Stadtgründungen im 11. und 12. Jahrhundert!
Daher auch die Bereitschaft der adligen Herren, dieser neuen Schicht neue Rechte einzuräumen. Denn eigentlich waren im christlichen Weltbild Handeltreibende gar nicht vorgesehen. Die Gesellschaft bestand, so wusste man, aus drei tragenden Säulen: demAdel, dem Klerus und der – arbeitenden – Landbevölkerung, oder, wie man es formuliert hat: bellatores, der Wehrstand, oratores, der Lehrstand und laboratores, der Nährstand. Konnte man zum letzteren notfalls auch die Handwerker rechnen, der frei herumreisende Händler passte dort nicht hinein. Er war zwar Untertan und Bürger, aber zugleich auch Abenteurer und Weltbürger; er besaß Haus und Grund und erwirtschaftete doch sein Vermögen durch Kauf und Verkauf; er war reich nicht wegen der Hufen in seinem Besitz, der Abgaben seiner Hörigen, sondern weil sich in seiner Truhe gemünztes Silber ansammelte. Und er trat Adel und Klerus zunehmend selbstbewusster gegenüber.
Nehmen wir also ein wenig Anteil an einem lübischen Kaufmann! Nennen wir ihn Johann Bardewick, unseren erdachten Handelsmann. Denn er war von dort – aus der damals noch florierenden Metropole Bardowiek – ins aufstrebende Lubeke gekommen, mit Sack und Pack sozusagen. Er war also neu in der Stadt an der Trave, aber kein Unbekannter, hatte er doch schon seit Jahren erfolgreich im Salzhandel mitgemischt. Seitdem aber die Ilmenau jetzt auch bis Lüneburg schiffbar wurde, fiel Bardowiek als Umschlagplatz fort; und außerdem hatte Herzog Heinrich seine Gunst ganz der neuen Hafenstadt zugewandt. Da war es lohnender, seine Geschäfte gleich von dort aus abzuwickeln. So erwarb Johann ein noch unbebautes Grundstück in der Mengstraße, dicht am Hafen, errichtete dort ein Hallenhaus, wie es in seiner sächsischen Heimat üblich war – dreischiffig mit kräftigen Hölzern als Pfeiler, um auch den weiten Boden unter dem Reetdach gut nutzen zu können.
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