»Sehr wahr!« flüsterte der Bischof.
»Bleiben wir bei dem Thema, fuhr G. fort. Sie haben von Ludwig XVII. gesprochen. Sehen wir zu, ob wir uns richtig verstehen. Beklagen wir alle unschuldigen kleinen Märtyrer, die geringen ebenso sehr wie die vornehmen? Gut, das will ich thun. Aber dann müssen wir auch weiter hinaufgehen als 1793. Ich will mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, wenn Sie mit mir die Kinder des Volkes beweinen.«
»Sie sind alle des Mitleids werth«, bestätigte der Bischof.
»In gleicher Weise«, rief G., »und wenn eine Wagschale sich senken soll, so sei es die des Volkes. Seine Leiden sind die älteren.«
Wieder trat eine Pause ein. G. brach zuerst das Stillschweigen. Er stützte sich auf den einen Ellbogen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger an die Wange, wie man unbewußt zu thun pflegt, wenn man einen Schuldigen verhört und zur Rede stellt, sah den Bischof strenge an und begann dann mit Heftigkeit:
»Ja, Herr Bischof, das Volk leidet schon lange. Aber noch Eins. Warum kommen Sie zu mir und reden über Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diese Gegend gekommen bin, habe ich in dieser Einöde gewohnt, allein in meiner Hütte, ohne je auszugehen, ohne Verkehr mit irgend Jemand, abgesehen von dem Hirtenjungen. Ihr Name ist allerdings zu mir gedrungen und er klang nicht schlecht, muß ich sagen; aber das will nicht viel sagen; die Klugköpfe haben so viele Mittel und Wege, dem guten Volk etwas vorzureden. Und nun ich daran denke: Ich habe Ihre Equipage nicht heranfahren hören. Sie haben sie gewiß hinter dem Gehölz am Kreuzweg halten lassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie haben mir gesagt, Sie wären ein Bischof, aber das klärt mich nicht auf über Ihr moralisches Ich. Also, ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, d. h. ein Kirchenfürst, Einer von Denen, die Wappen, Renten, große Präbenden haben, – das Bisthum Digne bringt 15,000 Franken festes Gehalt und 10,000 Franken Nebeneinkünfte, macht 25,000 Franken pro Jahr. – Sie sind Einer von Denen, die Bedienten und Köche haben, die sich's wohl sein lassen, die des Freitags Wasserhühner essen, in Palästen wohnen und im Namen Jesu Christi, der barfuß ging, in üppigen Galakutschen, mit Lakaien vorn und hinten, kutschiren. Alle diese Herrlichkeiten haben Sic und genießen Sie, aber das klärt mich nicht auf über Ihren inneren und wesentlichen Werth, den ich doch kennen muß; denn Sie sind doch offenbar mit der Absicht gekommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?« Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: » Vermis sum!«
»Ein Erdenwurm in einer Equipage!« murrte das Conventsmitglied. Jetzt war er hochfahrend und der Bischof bescheiden.
Letzterer hub mit sanfter Stimme wieder an:
»Sehr wohl. Aber erklären Sie mir doch, inwiefern meine Equipage da hinter den Bäumen, inwiefern meine üppige Tafel und die Wasserhühner, die ich des Freitags verspeise, inwiefern meine 25.000 Franken jährlich, inwiefern mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß das Mitleid keine Tugend, daß Milde keine Pflicht ist und daß die Schreckensmänner des Jahres 1793 nicht unbarmherzig gewesen sind.«
Der Mann des Convents fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen trüben Gedanken verscheuchen.
»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind in meinem Hause, Sie sind mein Gast und ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sind Sie mit meinen Ansichten nicht einverstanden, so ziemt es sich, daß ich mich damit begnüge, Ihre Gegengründe zu widerlegen. Ihr Reichthum und Ihr Glück geben mir Waffen an die Hand, Sie zu bekämpfen, aber der Anstand erheischt, daß ich mich solcher Waffen nicht bediene. Ich entsage diesem Vortheil für die Zukunft.«
»Ich danke Ihnen«, antwortete der Bischof.
»Nun die Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo waren wir doch stehen geblieben? Sie behaupteten ja wohl, 1793 seien wir unbarmherzig gewesen?«
»Gewiß. Denken Sie an Marat, der beim Anblick der Guillotine in die Hände klatschte!«
»Denken Sie an Bossuet, der die Protestantenhetzen mit Tedeums feierte!«
Die Antwort war schroff, aber sie drang dem Bischof bis ins Innerste wie eine Degenspitze. Er fuhr zusammen, fand keine Erwiderung, aber es verdroß ihn, Bossuet in dieser Weise erwähnen zu hören. Auch die Verständigsten haben ihre Götzen und ärgern sich, wenn die Logik gegen dieselben unehrerbietig ist.
Dem Sterbenden fing der Athem an auszugehen und zwang ihn ab und zu seine Rede zu unterbrechen, aber noch leuchtete völlige Geistesklarheit aus seinen Augen. Er fuhr fort:
»Meinetwegen können wir noch, so gut es geht, ein paar Worte plaudern. Außer der Revolution, die als ein Ganzes betrachtet, eine große Kundgebung des Menschentums war, ist 1793 auch eine Erwiderung. Sie schmähen die erbarmungslose Schreckenszeit, wie war denn aber die ganze Königszeit? Carrier ist ein Bandit; aber welche Benennung verdient Montrevel? Fouquier-Tinville war ein erbärmlicher Mensch, aber was meinen Sie zu Lamoignon-Bâville? Mailland beging Grausamkeiten, aber wie urtheilen Sie über Saulx-Tavannes, wenn ich fragen darf? Vater Duhêne predigte einen blutdürstigen Fanatismus, aber welches Urtheil erlauben Sie mir über Vater Letellier? Jourdan-Coupe-Tête ist ein Ungeheuer, aber doch noch kein so scheußliches wie der Marquis von Louvois. Herr Bischof, ich beklage das Schicksal der Erzherzogin und Königin Marie-Antoinette, aber auch jene arme Hugenottin thut mir leid, die 1685, unter der Regierung Ludwigs des Großen, nackt bis auf die Hüften an einen Pfahl gebunden wurde und die Wahl hatte, ob sie ihren Glauben abschwören oder ihr Kind, das dicht vor ihr nach der Mutterbrust schrie und zappelte, dem Tode preisgeben wollte. Was meinen Sie zu dieser einer Mutter angepaßten Tantalusqual? Herr Bischof, merken Sie sich, die Revolution hatte ihre Berechtigungsgründe. Was man damals aus gerechtem Zorn gefehlt hat, wird von der Zukunft entschuldigt werden. Ist doch ihr Endergebniß eine allgemeine Besserung der Zustände. Sie hat derb zugeschlagen, aber sie hat sich als eine Wohlthat für die Menschheit erwiesen. Aber ich halte ein, die Vortheile in unserm Meinungskampfe sind zu groß auf meiner Seite und übrigens fühle ich auch, daß der Tod näher kommt.«
Und die Augen von dem Bischof abgewendet, beschloß er ruhevoll seine Rede mit folgenden Worten:
»Ja, die Zornesaufwallungen des Fortschritts heißen Revolutionen. Sind sie vorüber, so wird man inne, daß die Menschheit hart angefaßt worden ist, aber, daß sie einen Schritt weiter gekommen ist.«
Er ahnte nicht, daß er eine nach der andern alle Verschanzungen erobert hatte, hinter denen der Bischof sich gegen seine Angriffe vertheidigte. Eine indessen blieb noch übrig, von der aus sein Widersacher seine letzte Waffe gegen ihn entsandte:
»Der Fortschritt,« begann er wieder mit seiner anfänglichen Heftigkeit, »soll an Gott glauben. Das Gute kann keinen unheiligen Diener haben. Ein Gottesleugner eignet sich schlecht zum Führer der Menschheit.
Der ehemalige Volksvertreter antwortete ihm nicht. Seinen Leib durchbebte ein Schauer. Aus seinem Auge quoll eine schwere Thräne die bleiche Wange hinab, und leise, den Blick in die Tiefen des Himmels versenkt, stammelte er vor sich hin:
»O Du! Ideal, Du allein bist!«
Der Bischof fühlte, in seinem Innern eine unbeschreibliche Erschütterung.
Nach einer Pause hob der Greis einen Finger gen Himmel und sagte:
»Das Unendliche ist, dort ist es. Hätte das Unendliche kein Ich, so hätte es an dem Ich eine Beschränkung, es wäre dann nicht unendlich; anders ausgedrückt, es wäre nicht. Es ist aber. Also hat es ein Ich. Dieses Ich des Unendlichen ist Gott.«
Der Sterbende hatte die letzten Worte mit lauter Stimme gesprochen, von den Schauern der Verzückung durchbebt, als schaue er ein höheres Wesen. Als er seine Rede beendet hatte, fielen ihm die Augen zu. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Augenscheinlich hatte er in einer Minute die Lebenskraft verbraucht, die sonst noch für einige Stunden gereicht hätte. Was er soeben gesagt, hatte ihn dem nahe gebracht, der in dem Tode ist. Sein letzter Augenblick kam heran.
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