»Ist mir egal! Ich will nichts hören.«
Jean Valjean wandte sich nach ihm um und sagte rasch und ganz leise:
»Gewähren Sie mir drei Tage Frist! Blos drei Tage, damit ich die kleine Tochter der armen Frau da herholen kann. Ich bezahle, was nöthig ist. Sie können mich begleiten, wenn Sie wollen.«
»Du spaßt!« schrie Javert. »Hör' mal, für dämlich habe ich Dich bis jetzt nicht gehalten! Drei Tage Frist willst Du haben, damit Du mir abschrammen kannst. Und da sagt er, das Kind will er holen! Der Spaß ist gut! Donnerwetter, der Spaß ist gut!«
Fantine erschrak.
»Mein Kind holen! Sie ist also nicht hier? Antworten Sie, Schwester: Wo ist Cosette? Ich will mein Kind haben! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister!«
Javert stampfte mit dem Fuß auf.
»Nun fängt Die auch noch an! Wirst Du's Maul halten, Kanaille! Nettes Land, wo man die Zuchthäusler zu Bürgermeistern ernennt und wo Dirnen wie Gräfinnen gehalten werden. Aber das wird jetzt anders werden. Es war auch Zeit.«
Er sah Fantine fest an, packte Halstuch, Hemde und Kragen seines Arrestanten noch derber und sagte:
»Von einem Herrn Madeleine und einem Herrn Bürgermeister ist hier nicht die Rede. Hier handelt's sich um einen Spitzbuben, einen Räuber, einen Galgenvogel, Namens Jean Valjean. Den führe ich jetzt ab. Verstanden?«
Fantine stemmte die Hände vor sich auf das Bett und fuhr jäh in die Höhe. Dann starrte sie Jean Valjean, Javert, die Nonne an; riß den Mund auf, um zu sprechen, stieß aber nur ein Röcheln aus der Kehle hervor, schlug die Zähne aneinander, streckte angstvoll die Hände aus und griff mit den geöffneten Händen um sich, wie ein Ertrinkender und fiel endlich auf das Kissen zurück. Dabei schlug ihr Kopf heftig auf den eisernen Rand des Bettgestells auf und sank auf ihre Brust herab.
Sie war tot.
Jean Valjean ergriff Javert's Hand und zwang ihn ohne Mühe, als hätte er mit einem Kinde zu thun, ihn loszulassen.
»Sie haben sie umgebracht!« rief er.
»Wirst Du bald ein Ende machen?« antwortete wüthend Javert. »Ich bin nicht hier, um Redensarten zu hören. Das können wir uns ersparen. Unten steht die Wache. Fix oder Du kriegst die Daumenschrauben zu kosten.«
In einer Ecke des Zimmers stand eine alte eiserne Bettstelle, die stark demolirt war, obgleich sie noch von den Schwestern des Nachts benutzt wurde. Auf diese Bettstelle schritt Jean Valjean jetzt zu, brach im Nu, was für einen Mann von seiner Muskelkraft leicht genug war, die Querstange am Kopfende, die ohnehin nicht mehr fest saß, ab und faßte Javert scharf ins Auge. Der fand es rathsam, sich rückwärts nach der Thür hin zu konzentriren.
Nun schritt Jean Valjean, die eiserne Stange in der Faust, langsamen Schrittes auf Fantinens Bett zu. Hier wendete er sich um und sagte mit kaum hörbarer Stimme:
»Ich möchte Ihnen nicht rathen, mich jetzt zu stören.«
Javert zitterte.
Er wollte einen Augenblick die Wache rufen, aber während der Zeit konnte Jean Valjean ihm entwischen. Er blieb also, faßte seinen Stock bei dem dünnen Ende und lehnte sich an die Thürbekleidung, ohne Jean Valjean aus den Augen zu lassen.
Jean Valjean seinerseits stützte den Ellbogen auf den Knauf der Bettstelle und die Stirn auf seine Hand. Dann betrachtete er stumm, in tiefe Gedanken versunken, die tote Fantine und auf seinem Gesicht war nur ein Ausdruck unendlichen Mitleids zu lesen. Nachdem er so eine Weile verharrt hatte, beugte er sich zu der Leiche nieder und sprach leise zu ihr:
Was sagte er zu ihr? Was konnte der Verstoßene wohl der Toten sagen? Niemand auf Erden hat seine Worte gehört. Vielleicht die Tote? Ueber allem Zweifel erhaben ist aber, daß Schwester Simplicia, die einzige Zeugin dieses Vorgangs, oft erzählt hat, in dem Augenblick, wo Jean Valjean sich zu Fantinens Ohr niederneigte, habe ein seliges Lächeln die blassen Lippen der Toten umspielt.
Dann nahm Jean Valjean Fantinens Kopf in seine Hände, legte ihn sorgsam, wie eine Mutter ihr Kind bettet, auf das Kissen nieder, band ihr Hemd oben zu und schob ihr Haar unter ihre Haube zurück. Hierauf drückte er ihr die Augen zu.
Fantinens Antlitz überstrahlte in diesem Augenblick eine seltsame Helle, die des Jenseits.
Nun kniete Jean Valjean vor der Toten nieder, ergriff sanft ihre Hand und küßte sie.
Dann stand er aus und sagte zu Javert:
»Jetzt machen Sie mit mir, was Sie wollen.«
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