Indessen brauchte aber doch der Staatsanwalt einen Jean Valjean und da ihm Champmathieu aus den Händen entwischte, so hielt er sich an Madeleine.
Gleich nach der Freilassung Champmathieus schloß er sich mit dem Vorsitzenden ein. Sie konferirten über die Nothwendigkeit, den Bürgermeister von Montreul-sur-Mer verhaften zu lassen. Nun die erste Erschütterung vorüber war, hatte der Vorsitzende auch wenig dagegen einzuwenden. Man mußte doch der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen. Außerdem aber war, um die volle Wahrheit zu sagen, der Vorsitzende zwar ein guter und einsichtsvoller Mann, aber zugleich auch gut königlich gesinnt und es hatte ihn verletzt, daß Madeleine von der Landung des »Kaisers Napoleon« und nicht von »Buonaparte« gesprochen hatte.
Es wurde also der Haftbefehl ausgefertigt, den der Staatsanwalt durch einen Expressen an Javert gelangen ließ.
Wir haben schon angegeben, daß Dieser unmittelbar nach seiner Vernehmung nach Montreuil-sur-Mer zurückgekehrt war.
Javert stand eben aus dem Bett auf, als der Expresse eintraf und ihm den Verhaft- und den Vorführungsbefehl übergab. Selber ein gewiegter Polizist, setzte er Javert in wenigen Worten auseinander, was in Arras vorgefallen war. Der von dem Staatsanwalt unterzeichnete Verhaftsbefehl lautete: »Dem Polizei-Inspektor Javert wird hiermit aufgegeben, den Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer, Madeleine, der in der heutigen Sitzung als der entlassene Zuchthaussträfling Jean Valjean agnoscirt worden ist, gefänglich einzuziehen.«
Niemand hätte unserem Javert ansehen können, was in ihm vorging, als er das Vorzimmer zu dem Krankensaal betrat. Er hatte sein gewöhnliches Aussehen, war kalt, ruhig, ernst und so bedächtig wie immer die Treppe hinaufgestiegen. Aber die ihn genauer kannten, hätten einen gewaltigen Schreck bekommen. Man denke: Die Schnalle seines Halskragens saß statt im Genick am linken Ohr! Dieses Toilettendetail bedeutete, daß in Javert's Seele ein gewaltiger Sturm tobte.
Javert war ein ganzer Mann, der es mit seiner Toilette so streng nahm, wie mit seiner Pflicht.
Wenn also eine Schnalle an seiner Uniform nicht richtig saß, so mußte etwas ganz Ungewöhnliches, eine großartige Umwälzung in seinem Innern vorgegangen sein.
Er hatte sich aus dem nächsten Wachtposten einen Korporal nebst vier Mann geholt, hatte dann seine Leute auf dem Hof warten heißen und sich von der arglosen Portierfrau, die daran gewöhnt war, Leute in Waffen bei dem Herrn Bürgermeister zu sehen, den Weg zu Fantinens Zimmer zeigen lassen.
Hier angelangt, schloß er die Thür auf und schlich sich leise, wie eine Krankenwärterin oder ein Spion hinein.
Genau genommen trat er nicht in das Zimmer ein. Er blieb auf der Thürschwelle stehen, den Hut auf dem Kopfe, die linke Hand in dem, bis ans Kinn zugeknöpften Rock. Sein Ellbogen umfing den Bleiknopf seines gewaltigen Stocks, der hinter seinem Rücken verschwand.
So stand er etwa eine Minute lang, ohne bemerkt zu werden. Plötzlich aber hob Fantine den Kopf hoch, erblickte ihn und zeigte ihn Madeleine.
In dem Augenblick, wo des Bürgermeisters Blick dem seinen begegnete, nahmen Javerts Züge einen grausigen Ausdruck an. Sein Gesicht glich dem Antlitz eines Teufels, der ein verloren geglaubtes Opfer wiederfindet.
Die Gewißheit, daß er endlich Jean Valjean in seinen Klauen hielt, ließ alle Empfindungen, die er im Herzen hegte, nach außen hervortreten. Der aufgewühlte Grund stieg an die Oberfläche. Den Aerger darüber, daß er eine Zeit lang einer falschen Fährte nachgegangen, beschwichtigte die stolze Genugthuung darüber, daß er von Anfang an das Richtige geahnt und lange Jahre hindurch einem bessern Instinkt gefolgt war. Seine Zufriedenheit gab sich in seiner hochmüthigen Haltung kund, und die ganze Widerwärtigkeit und Scheußlichkeit des boshaften Triumphes lagerte auf seiner engen Stirn.
Javert war selig, als wäre er im Himmel. Ohne sich klare Rechenschaft davon zu geben, war er sich doch einigermaßen bewußt, daß er, Javert, die Gerechtigkeit, die Aufklärung, die Wahrheit verkörpere, insofern sie Feinde alles Bösen sind. Er schwebte als Schutzengel im Glorienschein der Autorität, der Vernunft, der Ordnung, die seiner bedurften und dankbar zu ihm aufschauten, und schleuderte den Strahl der Rache auf das Verbrechen, das Laster, die Rebellion, die Hölle. Aber so verdammenswert Javerts Gefühle waren, Gemeines haftete ihnen nicht an.
Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Ueberzeugungstreue, Pflichtgefühl sind Eigenschaften, die, irre geleitet, sich auf eine abscheuliche Art äußern können, die aber auch dann noch die Merkmale des Großen, Majestätischen behalten. Die erbarmungslose ehrliche Freude eines Schwarmgeistes, der im Dienste eines edlen Prinzips einen scheußlichen Frevel verübt, hat immer etwas, das Achtung gebietet. Javert war, ohne es zu ahnen, beklagenswert, wie jeder Unwissende, der einen Triumph davonträgt und beweist, wie böse das Gute sein kann.
IV. Die Obrigkeit macht ihr Recht geltend
Seit dem Tage, wo der Bürgermeister sie aus den Händen Javerts befreite, hatte Fantine ihn nicht wieder gesehen. Als er jetzt vor ihr auftauchte, konnte ihr kranker, schwacher Kopf keinen andern Gedanken fassen, als daß er gekommen sei, sie zu holen. Sie konnte den Anblick des fürchterlichen Menschen nicht ertragen, vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und schrie angstvoll:
»Herr Madeleine, retten Sie mich!«
Jean Valjean – wir werden ihn fortan nicht anders nennen – hatte sich erhoben und sagte jetzt mit seiner sanftesten und mildesten Stimme zu Fantine:
»Seien Sie unbesorgt. Er kommt nicht Ihretwegen.«
Dann wandte er sich zu Javert mit den Worten:
»Ich weiß, was Sie wollen.«
»Vorwärts marsch!« brüllte Javert.
Er verfuhr nicht wie gewöhnlich, gab nicht an, weswegen er gekommen sei, zeigte nicht den Vorführungsbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein räthselhafter, unfaßbarer Gegner, ein teufelhafter Ringer, mit dem er sich nun schon fünf Jahre herumbalgte, ohne ihn werfen zu können. Diese Verhaftung war nicht die Einleitung zu einem Kampfe, nein, das Ende. Deshalb unterließ er alle weitläufigen Erklärungen und donnerte nur: »Vorwärts marsch!«
Dabei trat er keinen Schritt vor, sondern warf auf Jean Valjean nur seinen Raubthierblick, mit dem er die unglücklichen Opfer des Elends zu fasciniren und an sich heranzuziehen gewohnt war.
Dies war der Blick, der vor zwei Minuten Fantine bis ins innerste Mark durchschauert hatte.
Als Javert aufschrie, hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war da. Was hatte sie also zu fürchten?
Jetzt trat Javert bis in die Mitte des Zimmers vor und sagte:
»Nun, wirst Du bald kommen?«
Die Unglückliche blickte um sich. Es war Niemand da, als die Nonne und der Herr Bürgermeister. Wem galt das verächtliche Du? Doch nur ihr! Sie zitterte.
Da sah sie etwas Ungeheuerliches, wie sie Ungeheuerlicheres auch nicht im ärgsten Fieberwahnsinn erschaut hatte.
Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn Bürgermeister am Kragen packte, sah den Herrn Bürgermeister demüthig das Haupt neigen. Ihr war, als ginge die Welt unter.
»Herr Bürgermeister!« rief sie aus.
Javert lachte teuflisch auf.
»Mit der Bürgermeisterschaft ist's vorbei!«
Jean Valjean wehrte sich nicht gegen die Hand, die seinen Rockkragen fest hielt, und sagte blos:
»Javert ...«
»Herr Inspektor!« »hast Du mich zu nennen.«
»Herr Inspektor, ich möchte Ihnen ein Wörtchen unter vier Augen sagen.«
»Laut! Sprich laut! Mit mir spricht man laut!«
Jean Valjean aber fuhr noch leiser fort:
»Ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen.«
»Ich sage Dir, Du sollst laut sprechen!«
»Es darf aber kein Andrer hören als Sie.«
Читать дальше