Ich war Zeus die ganze Zeit treu gewesen. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, auch mal einen anderen Mann auszuprobieren. Oder mehrere. Ich zog durch die Kneipen, traurig innen, fröhlich außen, und traf einen Typen, der mir gefiel. Er hieß Marco, hatte schwarzes, wuscheliges Haar und tiefblaue Augen. Wenn er lachte, bildeten sich kleine Grübchen in seinen Wangen. Wir tanzten und tranken Münchner Bier, bis ich müde wurde. Ich ging mit zu ihm. Wir schliefen miteinander und er war wirklich sehr lieb zu mir. Bemühte sich mir zu gefallen, wollte mich unbedingt wiedersehen. Doch ich dachte nur an Zeus. Nachdem wir uns ein zweites und ein drittes Mal trafen, sagte ich ihm, dass ich einen anderen Mann liebe.
Ich ging zurück in mein Zimmer, fand dort einen Brief. Die Handschrift kam mir bekannt vor. Es war Zeus! „Mein lieber Hase, ich bin immer noch in Cannes und es ist wunderschön hier. Du kannst mir an diese Adresse hier schreiben. Ich hab dich lieb, mach’s gut, Zeus.“ Sofort schrieb ich ihm zurück: „Ich würde dich gern besuchen, ich habe ja noch Zeit, bis die Schule anfängt. Holst du mich vom Bahnhof ab, wenn ich den Zug nehme?“
Das wollte er tun, doch als ich in Cannes ankam, war dort kein Zeus. Traurig und mit einem tiefen Gefühl des Verlassenseins zog ich allein und ziellos durch die Straßen. Auf der Promenade sah ich eine Menschentraube und ging näher heran. Plötzlich hörte ich seine Stimme. Den Song hatte er im Park komponiert, während ich daneben im Gras lag und die Wolken zählte, die vorbeizogen. Ich stellte mich an einen Baum und beobachtete ihn durch die Menschenmenge hindurch. So oft hatte ich mir in München gewünscht, er würde es schaffen und tatsächlich ein Popstar werden. Sogar dafür gebetet habe ich, so sehr wollte ich es. Und jetzt stand er hier vor Publikum und bekam johlenden Beifall.
Ein Star war er damit noch nicht, aber der Anfang war gemacht, dachte ich. Nach einer Weile hörte er auf zu spielen und die Menschen zogen schnell weiter wie ein Schwarm Fische auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Ich ging auf Zeus zu und er sah mich mit großen Augen an: „Hase, ich dachte, du kommst erst morgen!“ Er zog mich an seine Brust, gab mir einen Kuss auf den Kopf und sagte: „Komm, du musst alle kennenlernen, alles sehen!“ Wir gingen zum Yachthafen, dort lagen unweit der Mole große Steine im Wasser. Jeder so groß wie ein Doppelbett. Mit Schlafsäcken, Kissen und Decken hatten sich hier zwischen 20 und 30 Jugendliche und die, die es noch sein wollten, ein Lager eingerichtet. „Hotel on the Rocks“ nannten sie es. Und das war es auch. Nachts der klare Sternenhimmel, so nah und grenzenlos. Morgens die ersten Sonnenstrahlen, die schon nach wenigen Minuten so warm waren, dass der Schlafsack sich aufheizte wie ein Backofen. Die Sonne war unser Wecker und sorgte jeden Morgen dafür, dass wir rechtzeitig vor der Polizei aufwachten. Die kontrollierte den Hafen fast täglich und verjagte uns dann für ein paar Stunden. Manchmal haben sie uns in die Berge gefahren, aber nach spätestens zwei Tagen waren wir wieder hier. Und inzwischen sind wir so viele, dass sie sich die Mühe gar nicht mehr machen.
Nachdem wir wach waren, sprangen wir jeden Morgen ins Meer, schwammen, tauchten, lachten und warfen uns in die Wellen. Alle nackt, alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Anschließend spülten wir uns mit den Süßwasserduschen am Strand das Salz von unseren schlanken, gebräunten Körpern und zogen in die Stadt zum Frühstücken. „Baguette und Apfelmus in Milch getunkt sind nahrhaft und billig“, sagte Zeus. Mittags dösten wir im Schatten, diskutierten über die Weltgeschehnisse, machten aus Muscheln Ketten, die wir zu verkaufen versuchten, lauschten Zeus’ warmer Stimme, während er Gitarre spielte, und warteten darauf, dass wir abends etwas aus dem Restemüll der Restaurants klauen konnten. Die fauligen Stellen im Gemüse schnitten wir heraus; aus dem Rest kochte die blonde Inge aus Dänemark mit den vielen Sommersprossen jeden Abend ein feines Mahl. Uns kam es vor wie das feinste Mahl an der französischen Südküste, während in den Restaurants um uns herum Hummer und Kaviar verspeist wurden. Wir waren glücklich. Vielleicht gerade weil wir so wenig hatten.
Wenn Zeus am Abend an der Promenade vor dem glitzernden Meer und der untergehenden Sonne sein kleines Konzert gab, ging ich wie in München mit meinem Hut herum und sammelte Münzen. „Avez-vous un Franc pour le musicien?“, fragte ich und legte dabei mein charmantestes Lächeln auf. Mein Haar war von der Sonne fast weißblond geblichen, meine Zähne schneeweiß und meine Augen wirkten in meinem tiefbraunen Gesicht wie Saphire. Die Münzen in meinem Hut hörten nicht auf zu klimpern. Abends tranken wir französischen Rotwein am Strand und drehten einen Joint nach dem anderen, bis wir im Dunkeln, nur von den Sternen beleuchtet, in unser „Hotel on the Rocks“ zurückkehrten. Bei jeder Sternschnuppe, die ich vor dem Einschlafen sah, wünschte ich mir, Zeus würde wirklich einmal ein großer Popstar werden. Er wünschte es sich so sehr und ich hatte fast das Gefühl, ich wünschte es mir noch mehr.
Mein südfranzösischer Traum endete nach drei Wochen am Bahnhof in Cannes. Ich musste wieder nach München, die Schule ging los. Der Abschied fiel mir unglaublich schwer. Das freie Leben, Zeus bei mir, die Sonne und immer lachende Menschen. Sei es aus eigener Fröhlichkeit oder berauscht durch Wein und Hasch, das ist doch egal – dieses Lebensgefühl würde mir im strengen Deutschland fehlen.
Wenigstens musste ich nicht mehr ins Büro und konnte endlich etwas Sinnvolles lernen. Ich ging in die Schule und streifte an den Wochenenden wieder durch die Bars, nicht sicher, ob ich mich hier nur vergnügen oder etwas suchen sollte. Als die Herbsttage kühler wurden, die orangebraunen Blätter die Bürgersteige säumten und die Menschen mit grob gestrickten, bunten Schals durch den Englischen Garten spazierten, klopfte es an einem Tag an meiner Tür. Ich hatte inzwischen ein eigenes kleines Apartment gefunden. Vor der Tür stand Zeus. Braun, strahlend, unwiderstehlich. Wir umarmten uns im Türrahmen und waren von dieser Sekunde an wieder so zusammen wie am ersten Tag. Zeus zog bei mir ein. Ich ging in die Schule, kaufte ein, kochte, hielt das Zimmer sauber und er machte Musik. Leider waren wir jetzt nicht mehr so viel allein, wie wir es in der Zeit waren, als wir noch in Abbruchhütten und Autos hausten. Täglich waren Leute da, manche kannte ich, viele jedoch nicht. Sie nebelten meine Bude ein, aschten ihre Zigaretten und Joints in meine Topfpflanzen und löffelten aus den Töpfen, die ich auf dem Herd stehen hatte. Ich mochte die tiefgründigen Gespräche und lauschte gespannt den gesellschaftspolitischen Theorien, aber ich brauchte auch Zeit für mich. Zum Lernen, Alleinsein und ich wollte Zeus für mich.
Unsere Beziehung verlief nach einem interessanten Muster. Im Herbst entdeckten wir uns neu, alles an dem anderen war spannend; im Winter waren wir wie eine Einheit und kosteten dieses Gefühl aus bis in den Frühling. Dann, wenn sich die Gewohnheit einschlich und einen grauen Mantel der Langeweile über die Beziehung zu legen drohte, trennten sich unsere Wege. Jeder verbrachte den Sommer in einer anderen Stadt und im Herbst trafen wir uns wieder. Wie ein bizarrer Liebeskreislauf war das und ich fürchtete mich vor dem nächsten Sommer.
Aber jetzt war erst einmal Weihnachten und Zeus wünschte sich einen Hund. Wir kauften uns eine Dackeldame und nannten sie Lieschen. Sie war wie unser Baby. Und wir waren ihre Eltern. Zeus und ich vergötterten diesen Hund. Zeus wollte, dass sie frech und wild wird, doch Lieschen war ganz brav und hörte auf jedes Wort. Jeden Tag gingen wir stundenlang mit ihr spazieren und nachts schlief sie mit in unserem Bett. Wir waren wie die drei Musketiere – ein eingeschworenes Team. Wir hatten sogar unsere eigene Babysprache, in der wir mit albernen Lauten miteinander kommunizierten, wenn wir unter uns waren und uns anschließend über uns schlapplachten. Als wir mit Lieschen in einem kleinen Boot auf einem See paddelten, sagte ich, dass Hunde ganz instinktiv schwimmen könnten. Einfach so, von Geburt an. Zeus wollte mir nicht glauben und warf Lieschen völlig ohne Vorwarnung über Bord. Erschrocken sah ich, wie Lieschen mit Panik in den weit aufgerissenen Augen um ihr Leben paddelte. Natürlich konnte sie schwimmen, aber so war es ein Schock für sie. Ein Schock mit Folgen. Von diesem Tag an mied Lieschen das Wasser und rannte weg, sobald sie einen See oder einen Fluss sah.
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